Mission Walhalla
wirkte, wie der Bahnhofsvorsteher es beschrieben hatte. Vom Dorfplatz fuhr gerade ein Bus ab, und wir sahen den Pastor mit der alten Dame, die noch immer ihr Vermisstenschild trug, von der Haltestelle weggehen. Sie steuerten auf ein wuchtiges Fachwerkhaus im Schatten eines mäßig hohen quadratischen Kirchturms zu und verschwanden darin. Sogleich gingen ein paar Lampen an.
Wenger parkte am Straßenrand.
«Möller», sagte ich. «Sie kommen mit mir. Aber Sie sagen kein Wort. Die anderen warten im Wagen.»
Der Pastor war überrascht, zu so später Stunde Besuch zu bekommen, doch als ich erklärte, dass ich vom VdH sei und wir Frau Kettenacher am Bahnhof verpasst hätten, bat er uns zu der alten Dame ins Wohnzimmer.
«Ich besuche alle Familien in diesem Teil Niedersachsens, die einen Angehörigen vermissen», sagte ich. «Aber wir sind uns, glaub ich, noch nicht begegnet, Frau Kettenacher.»
«Ach, das liegt daran, dass sie aus Kassel ist», erklärte Pastor Overmans. «Frau Kettenacher ist eine gute Freundin meiner Schwester. Sie ist nur zu Besuch hier, weil sie heute Abend am Bahnhof sein wollte.»
«Es tut mir leid, dass Ihr Sohn nicht im Zug war», sagte ich zu ihr. «Um weitere Enttäuschungen zu vermeiden, drängen wir die Russen, uns genauere Informationen über die Kriegsgefangenen zu geben, die sie noch festhalten. Und wann sie freigelassen werden.»
Der Pastor, ein Mann mit kantigem Gesicht und weißem Haar, ließ seinen Blick durch den düster eingerichteten Raum schweifen und sah dann die Dame an, die in sich zusammengesunken auf einem wackeligen Stuhl saß. «Na, das wäre ja schön, nicht wahr, Frau Kettenacher?»
Sie nickte stumm. Sie war noch im Mantel und trug einen Hut, der Ähnlichkeit mit dem Helm eines Luftschutzwarts hatte. Ein durchdringender Geruch nach Mottenkugeln und Enttäuschung ging von ihr aus.
Ich fuhr mit meiner grausamen Scharade fort. Wenn ich richtiglag und Edgard de Boudel tatsächlich den Namen von Hauptmann Richard Kettenacher angenommen hatte, konnte das nur eines bedeuten: dass der echte Hauptmann tot war, und zwar schon lange. Aber noch grausamer als ich waren de Boudel und der russische Geheimdienst, der dieses Schmierentheater angezettelt hatte, jedenfalls redete ich mir das ein.
«Allerdings», sagte ich gewichtig, «sind die sowjetischen Behörden nicht gerade für gründliche Aktenführung bekannt. Das weiß ich, weil ich selbst in Kriegsgefangenschaft war. Wenn unsere Männer freikommen, werden sie erst bei ihrer Ankunft vom Deutschen Roten Kreuz registriert und nicht bereits im Vorfeld von den Russen. Aus diesem Grund sind wir dabei, Listen von all denjenigen zusammenzustellen, die noch vermisst werden. Ich weiß, dass der Zeitpunkt nicht der beste ist, aber es würde uns sehr helfen, wenn Sie mir ein paar Fragen zu Ihrem vermissten Sohn beantworten würden.» Ich lächelte den Pastor traurig an. «Kennen Sie ihn?»
«Ja», sagte er und nannte mir Namen, Rang und Erkennungsnummer des Mannes – was ich bereits alles wusste – sowie die Einzelheiten seines Kriegsdienstes.
Gewissenhaft notierte ich alles. «Ich verspreche Ihnen, ich werde Ihre Zeit nicht allzu lange in Anspruch nehmen», sagte ich. «Haben Sie vielleicht irgendwelche persönlichen Unterlagen über den Vermissten? Ein Soldbuch vielleicht? Nicht jeder Soldat hatte sein Soldbuch immer dabei, wie es Vorschrift ist. Viele ließen es lieber zu Hause, damit ihre Frauen das Geld einfordern konnten. Ich hab das jedenfalls getan. Oder vielleicht seinen Wehrpass. Parteibuch. So was eben.»
Frau Kettenacher hatte bereits ihre braune Lederhandtasche in Form einer Walnussschale geöffnet. «Mein Richard war ein guter Junge», sagte sie. «Er hätte nie gegen die Vorschrift verstoßen, sein Soldbuch immer mitzuführen.» Sie holte einen Umschlag hervor und reichte ihn mir. «Aber alles andere finden Sie hier drin. Seinen NSDAP -Ausweis. Seinen SA -Ausweis. Seinen Gesellenbrief. Seinen Ausweis für Handelsreisende – er ist gelernter Werkzeugmacher, wissen Sie, aber dann hat er auf Handelsvertreter umgesattelt und die Sachen verkauft, die er früher hergestellt hat. Seinen Reisepass. Er musste nämlich geschäftlich mal nach Italien. Seinen Ausweis für Fliegergeschädigte – Richards Wohnung in Kassel wurde ausgebombt. Seine Frau kam dabei ums Leben. Sie war so ein nettes Mädchen. Und sein Wehrpass ist auch drin.»
Ich versuchte, mir meine Begeisterung nicht anmerken zu lassen. Die alte Dame gab mir
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