Mister Aufziehvogel
Firmenangestellte, die sich die Mieten Tokios nicht leisten konnten, aus dem Boden gestampft worden waren. Der Bahnhof war brandneu, und gleich gegenüber erstreckten sich riesige überflutete Reisfelder - die größten, die ich bis dahin je gesehen hatte. Die Straßen waren mit Reklametafeln von Immobilienmaklern gesäumt.
Das Wartezimmer der Klinik war überfüllt mit dickbäuchigen jungen Frauen, von denen die meisten im vierten oder fünften Ehejahr gewesen sein dürften und jetzt endlich dazu kamen, sich in ihrem überschuldeten Vororthäuschen ans Kinderkriegen zu machen. Der einzige jüngere Mann weit und breit war ich. Sämtliche schwangeren Damen starrten mit dem größten Interesse - und ohne das geringste Anzeichen von Sympathie - in meine Richtung. Jeder hätte auf den ersten Blick erkannt, daß ich ein College-Student war, der seine Freundin versehentlich geschwängert hatte und mit ihr wegen einer Abtreibung hier war. Nach dem Eingriff kehrten das Mädchen und ich nach Tokio zurück. Um diese Uhrzeit - es war später Nachmittag - war der stadteinwärts fahrende Zug so gut wie leer. Ich entschuldigte mich bei dem Mädchen. In diesen Schlamassel, sagte ich, sei sie ausschließlich durch meine Gedankenlosigkeit geraten. »Nimm’s nicht so schwer«, sagte sie. »Immerhin hast du mich in die Klinik begleitet, und du hast die Abtreibung bezahlt.«
Kurze Zeit später trennten wir uns, und so habe ich nie erfahren, was aus ihr wurde, aber die Angelegenheit lag mir noch sehr lange auf der Seele - selbst dann noch, als wir nichts mehr miteinander zu tun hatten. Jedesmal, wenn ich an diesen Tag zurückdachte, schoß mir dasselbe Bild durch den Kopf: dieses Wartezimmer, zum Bersten voll mit schwangeren jungen Frauen, deren Augen eine solche Gewißheit ausstrahlten. Und jedesmal durchfuhr mich wieder der Gedanke, daß ich sie nie hätte schwängern dürfen.
Um mich zu trösten - um mich zu trösten! -, zählte sie mir während der Rückfahrt alles auf, was den Eingriff so unproblematisch gemacht hatte. »Es ist gar nicht so schlimm, wie du glaubst«, sagte sie. »Es ist schnell vorbei, und es tut auch nicht weh. Man zieht sich einfach aus und legt sich da hin. Klar, ein bißchen peinlich ist es wohl schon, aber der Arzt war nett und die Schwestern auch. Natürlich haben sie mir eine kleine Moralpredigt gehalten, haben gemeint, ich sollte in Zukunft besser aufpassen. Also mach dir keine Vorwürfe. Es ist zum Teil auch meine Schuld. Ich hab ja schließlich gesagt, es würde klargehen, stimmt’s? Also Kopf hoch.«
Trotzdem hatte ich während der ganzen langen Zugfahrt hinaus nach Chiba und dann wieder zurück nach Tokio das Gefühl gehabt, ich sei ein anderer Mensch geworden. Selbst noch nachdem ich sie nach Hause begleitet hatte und in mein Zimmer zurückgekehrt war, um mich aufs Bett zu legen und an die Decke zu starren, konnte ich die Veränderung spüren. Ich war ein neues »Ich«, und ich konnte nie wieder zu dem werden, der ich vorher gewesen war. Was mir zu schaffen machte, war das Bewußtsein, meine Unschuld verloren zu haben. Es war nicht das Gefühl, im moralischen Sinne unrecht gehandelt zu haben, auch kein bloßes schlechtes Gewissen. Ich wußte, daß ich einen schrecklichen Fehler begangen hatte, aber ich bestrafte mich nicht etwa dafür. Es ging um eine physische Tatsache, durch keinerlei Strafe anzugehen, der ich mich nüchtern und logisch würde stellen müssen.
Als ich erfuhr, daß Kumiko schwanger war, fiel mir als allererstes das Bild dieses Wartezimmers voll von schwangeren jungen Frauen ein. Oder besser gesagt, der besondere Geruch, der dort in der Luft gehangen hatte. Ich hatte keine Ahnung, was für ein Geruch das gewesen sein mochte - ja, ob es überhaupt ein realer Geruch gewesen war. Vielleicht war es auch nur etwas wie ein Geruch gewesen. Als die Sprechstundenhilfe den Namen aufgerufen hatte, war das Mädchen langsam von dem harten, vinylbezogenen Stuhl aufgestanden und direkt auf die Tür des Behandlungszimmers zugegangen. Unmittelbar bevor sie aufgestanden war, hatte sie mich mit dem Anflug eines Lächelns bedacht - oder mit dem, was von einem Lächeln übriggeblieben war, nachdem sie es sich anders überlegt hatte. Ich wußte, daß es für uns unrealistisch gewesen wäre, ein Kind zu bekommen, aber ich wollte andererseits auch nicht, daß Kumiko abtreiben ließ. Als ich ihr das sagte, entgegnete sie: »Das haben wir doch schon alles durchgesprochen. Wenn ich jetzt ein Kind
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