Mister Aufziehvogel
herrschen könnte als auf der Erdoberfläche. Nun umgab mich vollkommene Finsternis. Sosehr ich meine Augen auch anstrengte, konnte ich nicht das geringste erkennen. Ich konnte nicht sehen, wo meine eigene Hand war. Ich tastete die Wand ab, bis ich die Leiter fühlte, und ruckte einmal daran. Sie war noch immer fest an der Oberwelt verankert. Die Bewegung meiner Hand schien die Dunkelheit ins Wanken zu bringen, aber das konnte auch eine Sinnestäuschung gewesen sein.
Es war ein äußerst seltsames Gefühl, nicht imstande zu sein, meinen eigenen Körper zu sehen, obwohl ich doch wußte, daß er dasein mußte. Als ich vollkommen reglos so im Dunkeln saß, kam mir die Gewißheit, daß ich tatsächlich existierte, immer mehr abhanden. Um dem entgegenzuwirken, räusperte ich mich ab und zu oder rieb mir mit der Hand über das Gesicht. Auf diese Weise konnten meine Ohren die Existenz meiner Stimme überprüfen, meine Hand die Existenz meines Gesichts und mein Gesicht die Existenz meiner Hand. Trotz dieser Gegenmaßnahmen begann mein Körper immer mehr an Dichte und Schwere zu verlieren, wie Sand, der nach und nach von fließendem Wasser fortgespült wird. Ich hatte das Gefühl, als fände in meinem Inneren ein erbittertes wortloses Tauziehen statt, ein Ringen, bei dem mein Bewußtsein meinen Körper langsam, aber sicher in sein Territorium zerrte. Die Dunkelheit störte das richtige Gleichgewicht zwischen den beiden. Mir kam der Gedanke, daß mein Körper nur eine provisorische Hülle sei, die durch Umordnen der Zeichen, die man Chromosomen nennt, für mein Bewußtsein angefertigt worden war. Eine weitere Umordnung der Zeichen, und ich würde mich in einem völlig anderen Körper wiederfinden. »Prostituierte des Geistes« hatte Kreta Kano sich genannt. Es fiel mir nicht mehr schwer, diesen Ausdruck zu akzeptieren. Ja, es war möglich, daß wir uns im Geist paarten und ich in der Wirklichkeit kam. In wirklich tiefer Finsternis waren die seltsamsten Dinge möglich.
Ich schüttelte den Kopf und bemühte mich, mein Bewußtsein wieder in meinen Körper zu bringen.
Ich preßte im Dunkeln die Fingerspitzen der einen Hand gegen die Fingerspitzen der anderen - Daumen gegen Daumen, Zeigefinger gegen Zeigefinger. Die Finger meiner rechten Hand bestätigten die Existenz der Finger meiner linken Hand, und die Finger meiner Linken bestätigten die Existenz der Finger meiner Rechten. Dann atmete ich mehrmals langsam und tief. Also schön, genug über das Bewußtsein nachgedacht. Denk über die Wirklichkeit nach. Denk über die reale Welt nach. Die Welt des Körpers. Deswegen bin ich überhaupt hier. Um über die Wirklichkeit nachzudenken. Am besten über die Wirklichkeit nachdenken, hatte ich mir überlegt, ließe sich, wenn man sich so weit wie möglich von ihr zurückzog - an einen Ort wie den Grund eines Brunnens etwa. »Wenn du absteigen sollst, such dir den tiefsten Brunnen und geh hinunter auf den Grund«, hatte Herr Honda gesagt. Gegen die Wand gelehnt, sog ich langsam die modrige Luft in meine Lungen.
Wir heirateten ohne jede Zeremonie. Wir hätten uns gar keine leisten können, und wir wollten uns nicht ihren Eltern zu Dank verpflichtet fühlen müssen. Unser gemeinsames Leben so beginnen zu können, wie es unseren Möglichkeiten entsprach, war uns weit wichtiger als eine Zeremonie. Eines frühen Sonntagmorgens gingen wir aufs Standesamt, weckten, als wir am Sonntagsschalter klingelten, den diensthabenden Beamten und ließen uns als Eheleute eintragen. Später gingen wir in ein französisches Luxusrestaurant von der Art, die wir uns normalerweise beide nicht leisten konnten, bestellten eine Flasche Wein und aßen ein Menü mit drei Gängen. Das genügte uns.
Zum Zeitpunkt unserer Heirat hatten wir praktisch keinerlei Ersparnisse (von meiner Mutter hatte ich zwar ein wenig Geld geerbt, aber ich hatte mir fest vorgenommen, es nur in einem wirklichen Notfall anzurühren) und so gut wie keine Möbel. Zukunftsaussichten hatten wir ebenfalls so gut wie keine. Ohne Zulassung als Anwalt brauchte ich mir keine Hoffnungen zu machen, es in der Kanzlei, in der ich arbeitete, je zu was zu bringen, und Kumiko arbeitete bei einem winzigen, unbekannten Verlag. Wenn sie gewollt hätte, hätte sie nach dem Abschlußexamen mit Hilfe ihres Vaters eine viel bessere Stellung bekommen können, aber der Gedanke, sich an ihn zu wenden, behagte ihr nicht, und sie hatte sich lieber etwas auf eigene Faust gesucht. Trotzdem waren wir nicht etwa
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