Mister Aufziehvogel
belanglosesten - oder auch leidenschaftlichsten - Gespräch ohne jede Vorwarnung verstummen; ganz unvermittelt und ohne jeden Grund (zumindest ohne einen mir erkennbaren Grund). Es war, als spazierte man die Straße entlang und fiele unversehens in eine Grube. Ihr Schweigen hielt nie sehr lange an, aber danach war sie immer für eine ganze Weile irgendwie nicht richtig da. Als ich das erste Mal in Kumiko eindrang, nahm ich ein seltsames Zögern war. Kumiko hätte bei diesem ersten Mal - für sie das erste Mal überhaupt - nichts als Schmerz empfinden müssen, und tatsächlich verriet ihr verkrampfter Körper, daß sie Schmerzen litt, doch das war nicht der einzige Grund für das Zögern, das ich zu spüren meinte. Da war noch eine merkwürdige Abgeklärtheit, ein Gefühl des Getrenntseins, der Distanz, ich weiß auch nicht genau, wie ich es nennen soll. Ich wurde von dem bizarren Gedanken überfallen, der Körper, den ich in den Armen hielt, sei nicht der Körper der Frau, die ich bis vor wenigen Augenblicken neben mir gehabt und mit der ich zärtliche Worte gewechselt hatte: Ohne daß ich etwas gemerkt hatte, war ein Schalter umgeklickt, und ein fremder Körper hatte ihren Platz eingenommen. Ich hielt sie in den Armen, und meine Hände fuhren fort, ihren Rücken zu streicheln. Das Gefühl, ihren schmalen glatten Rücken zu berühren, übte eine fast hypnotische Wirkung auf mich aus, und dennoch schien Kumikos Rücken gleichzeitig irgendwo weit fort von mir zu sein. Solange sie in meinen Armen lag, hätte ich schwören können, Kumiko sei ganz woanders und denke an etwas ganz anderes, und der Körper, den ich festhielt, sei lediglich ein zeitweiliger Stellvertreter. Das könnte auch der Grund dafür gewesen sein, daß es, obwohl ich sehr erregt war, so lange dauerte, bis ich kam. Dieses befremdliche Gefühl hatte ich nur bei unserem ersten Geschlechtsverkehr. Danach hatte ich den Eindruck, daß sie mir viel näher sei und körperlich weit empfindlicher reagiere. Ich gelangte zu der Überzeugung, dieses anfängliche Gefühl der Distanz habe damit zusammengehangen, daß es für sie das erste sexuelle Erlebnis überhaupt gewesen war.
Während ich meine Erinnerungen durchforschte, griff ich gelegentlich nach der herabhängenden Strickleiter und gab ihr einen Ruck, um mich zu vergewissern, daß sie sich nicht gelöst hatte. Ich wurde einfach die Angst nicht los, sie könnte jeden Augenblick herunterfallen. Jedesmal wenn mir, da unten in der Dunkelheit, dieser Gedanke kam, wurde mir ganz unbehaglich zumute. Ich hörte sogar mein Herz hämmern. Nach etlichen - vielleicht zwanzig oder dreißig - Überprüfungen beruhigte ich mich allmählich etwas. Schließlich hatte ich die Leiter sehr sorgfältig am Baum festgebunden. Sie konnte sich nicht einfach so lösen. Ich sah auf meine Uhr. Die Leuchtzeiger standen auf kurz vor drei. Drei Uhr nachmittags. Ich sah nach oben. Die halbmondförmige Lichttafel hing noch immer an ihrer Stelle; die Erdoberfläche war von blendendem Sommerlicht überflutet. Ich malte mir einen Bach aus, der im Sonnenlicht funkelte, und grüne Blätter, die in der Brise zitterten. Da oben herrschte das Licht unumschränkt, und dennoch existierte nur ein kleines Stück tiefer, hier unten, eine solche Dunkelheit. Man brauchte nur an einer Strickleiter ein paar Meter unter die Erde zu klettern, und schon erreichte man eine so tiefe Dunkelheit.
Ich zog noch ein weiteres Mal an der Leiter, um wirklich sicher zu sein, daß sie fest verankert war. Dann lehnte ich den Kopf an die Wand und schloß die Augen. Irgendwann überwältigte mich der Schlaf, wie eine allmählich steigende Flut.
7
E RINNERUNGEN UND DIALOG
ÜBER DIE SCHWANGERSCHAFT
EMPIRISCHE UNTERSUCHUNG ÜBER DEN SCHMERZ
Als ich aufwachte, hatte die halbmondförmige Öffnung des Brunnens die tiefe Bläue des Abends angenommen. Nach meiner Uhr war es halb acht. Neunzehn Uhr dreißig. Was bedeutete, daß ich viereinhalb Stunden hier unten gelegen und geschlafen hatte.
Hier auf dem Grund des Brunnens war es kühl. Beim Hinunterklettern war ich wahrscheinlich zu nervös und aufgeregt gewesen, um mir Gedanken über die Lufttemperatur zu machen; jetzt aber registrierte meine Haut eine unangenehme Kühle. Während ich mir die nackten Arme warmrieb, wurde mir bewußt, daß ich besser daran getan hätte, im Rucksack etwas zum Überziehen mitzunehmen. Ich war gar nicht auf den Gedanken gekommen, daß auf dem Grund des Brunnens eine andere Temperatur
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