Mister Aufziehvogel
dazugehörigen Mann auch schon als A, B oder C klassifiziert. Wenn das so weiterging, hätte ich genausogut May Kasahara anrufen und mich mit ihr verabreden können, wieder Erhebungen für den Toupethersteller durchzuführen. Nachdem aber ein paar Tage vergangen waren, merkte ich, daß es mir mit einemmal gelang, einfach dazusitzen und die Gesichter der Leute zu betrachten, ohne an irgendwas zu denken. Die meisten Passanten auf diesem Platz waren Männer und Frauen, die in den Büros des Hochhauses arbeiteten. Die Männer trugen weißes Hemd, Krawatte und Aktenkoffer, die Frauen fast alle Stöckelschuhe. Darüber hinaus sah ich Kunden und Gäste der Geschäfte und Restaurants des Hochhauses, Familien auf dem Weg zur Aussichtsplattform und ein paar Leute, die unterwegs von Punkt A nach Punkt B einfach hier vorüberkamen. Hier gingen die meisten Passanten nicht sehr schnell. Ich sah sie mir einfach alle an, ohne klare Absicht. Gelegentlich gab es Leute, die aus dem einen oder anderen Grund mein Interesse erregten, und dann konzentrierte ich mich auf ihr Gesicht und folgte ihnen mit dem Blick. Jeden Morgen stieg ich um zehn, nach der Rush-hour, in den Zug nach Shinjuku, setzte mich auf dem Platz auf meine Bank und blieb bis vier Uhr dort, fast ohne etwas anderes zu tun, als die Gesichter der Leute zu betrachten. Nachdem ich das eine Zeitlang gemacht hatte, merkte ich, daß ich auf diese Weise - indem ich meine Augen auf ein vorüberziehendes Gesicht nach dem anderen richtete - meinen Kopf völlig leer machen konnte, als entkorkte ich eine Flasche. Ich sprach mit niemandem, und niemand sprach mit mir. Ich dachte an nichts, ich empfand nichts. Oft hatte ich das Gefühl, ich sei Teil der steinernen Bank geworden. Einmal sprach mich freilich doch jemand an - eine schlanke, gutgekleidete Frau mittleren Alters. Sie trug ein leuchtend rosafarbenes, enganliegendes Kleid, eine dunkle Sonnenbrille mit Schildpattgestell und einen weißen Hut, und sie hatte eine weiße, geflochtene Handtasche unter dem Arm. Sie hatte hübsche Beine und trug teuer aussehende, makellos weiße Ledersandalen. Ihr Make-up war etwas dick aufgetragen, aber nicht so sehr, daß es unangenehm gewirkt hätte. Sie fragte mich, ob ich irgendwie in Schwierigkeiten sei. Ganz und gar nicht, erwiderte ich. Ich sehe Sie, glaube ich, jeden Tag hier, sagte sie. Dann fragte sie mich, was ich eigentlich täte. Ich sagte, ich sähe mir die Gesichter der Leute an. Sie fragte, ob ich das mit einer bestimmten Absicht täte, und ich sagte nein. Sie setzte sich neben mich, holte eine Schachtel Virginia Slims aus ihrer Handtasche und zündete sich mit einem kleinen goldenen Feuerzeug eine an. Sie bot mir eine an, aber ich schüttelte den Kopf. Dann nahm sie ihre Brille ab und blickte mir wortlos ins Gesicht. Genauer gesagt, sie blickte auf das Mal in meinem Gesicht. Ich meinerseits sah ihr in die Augen, konnte in ihnen aber keinerlei Regung entdecken. Ich sah lediglich zwei dunkle Pupillen, die anscheinend ihren Dienst verrichteten, wie es sich gehörte. Die Frau hatte eine kleine spitze Nase. Ihre Lippen waren schmal und sehr sorgfältig geschminkt. Es fiel mir schwer, ihr Alter zu schätzen, aber ich tippte auf Mitte vierzig. Auf den ersten Blick wirkte sie jünger, aber die Linien neben ihrer Nase deuteten auf eine gewisse Ermüdung hin. »Haben Sie Geld?« fragte sie.
Darauf war ich nicht gefaßt gewesen. »Geld? Was meinen Sie damit, ob ich Geld habe?«
»Ich frage nur: Haben Sie Geld? Oder sind Sie abgebrannt?«
»Nein. Im Moment bin ich nicht abgebrannt«, sagte ich.
Sie zog den Mund leicht nach einer Seite, als wäge sie ab, was ich gesagt hatte, und konzentrierte weiterhin ihre ganze Aufmerksamkeit auf mich. Dann nickte sie.
Und dann setzte sie die Sonnenbrille wieder auf, ließ ihre Zigarette auf den Boden fallen, erhob sich anmutig und glitt davon, ohne einen Blick in meine Richtung. Verblüfft folgte ich ihr mit den Augen, bis sie zwischen den Passanten verschwand. Vielleicht war sie ein bißchen verrückt. Aber ihr makelloses Äußeres sprach eigentlich dagegen. Ich trat ihre weggeworfene Zigarette aus, und dann ließ ich den Blick langsam über meine Umgebung wandern, die sich jedoch als angefüllt mit der normalen Wirklichkeit erwies. Menschen gingen von einem Ort zum anderen, jeder mit einem bestimmten Zweck. Ich wußte nicht, wer sie waren, und sie wußten nicht, wer ich war. Ich atmete tief durch und wandte mich wieder meiner Aufgabe zu, die Gesichter
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