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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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dieser Menschen zu betrachten, ohne einen Gedanken im Kopf.
    Insgesamt saß ich elf Tage dort. Jeden Tag holte ich mir Doughnuts und Kaffee und tat ansonsten nichts anderes, als die Gesichter der Passanten zu beobachten. Abgesehen von der bedeutungslosen kurzen Unterhaltung mit der gutangezogenen Frau sprach ich während der ganzen elf Tage mit niemandem ein Wort. Ich tat nichts Besonderes, und ich erlebte auch nichts Besonderes. Aber selbst nach diesem elftägigen Vakuum war ich außerstande, zu irgendeinem Entschluß zu kommen. Ich irrte noch immer in einem unübersichtlichen Labyrinth umher, unfähig, das einfachste Problem zu lösen.
    Dann aber, am Abend des elften Tages, geschah etwas sehr Seltsames. Es war ein Sonntag, und ich war länger dageblieben und hatte länger Gesichter beobachtet als sonst. Die Menschen, die am Sonntag nach Shinjuku kamen, waren anders als das werktägliche Publikum, und außerdem gab es keine Rush-hour. Mir fiel ein junger Mann mit einem schwarzen Gitarrenkasten ins Auge. Er war von durchschnittlicher Körpergröße. Er trug eine Brille mit schwarzem Kunststoffgestell, hatte schulterlanges Haar, war von Kopf bis Fuß in Jeansstoff gekleidet und trottete in abgewetzten Turnschuhen dahin. Ohne nach links oder rechts zu schauen, ging er mit nachdenklichem Ausdruck in den Augen an mir vorbei. Als ich ihn sah, stutzte ich. Mein Herz setzte einen Schlag aus. Den kenne ich, dachte ich. Ich hab ihn schon mal irgendwo gesehen. Aber es dauerte ein paar Sekunden, bis ich mich wieder erinnerte, wer er war - der Sänger, den ich in jener Nacht in der Bar in Sapporo gesehen hatte. Kein Zweifel, er war’s.
    Ich sprang von meiner Bank auf und eilte ihm nach. Gemächlich, wie er ging, war es nicht schwierig, ihn einzuholen. Als ich zehn Schritte hinter ihm war, paßte ich meine Geschwindigkeit der seinen an. Ich erwog, ob ich ihn ansprechen sollte. Ich würde etwa sagen: »Sie haben doch vor drei Jahren in Sapporo gesungen, nicht? Ich hab Sie dort gehört.«
    »Ach, wirklich?« würde er sagen. »Herzlichen Dank« Und was dann? Sollte ich dann etwa sagen: »Meine Frau hatte an dem Tag abtreiben lassen. Und vor nicht allzu langer Zeit hat sie mich verlassen. Sie ging mit einem anderen Mann ins Bett«? Ich beschloß, ihm einfach zu folgen und abzuwarten, was passieren würde. Vielleicht würde mir unterwegs eine bessere Strategie einfallen.
    Er entfernte sich vom Bahnhof, ging an der langen Reihe von Hochhäusern vorbei, überquerte die Ome-Schnellstraße und schlug die Richtung nach Yoyogi ein. Er schien tief in Gedanken zu sein. Offenbar kannte er sich in dieser Gegend gut aus; kein einziges Mal zögerte er oder sah sich um. Er ging immer in demselben Tempo weiter, das Gesicht unverwandt nach vorn gerichtet. Ich folgte ihm und dachte dabei an den Tag von Kumikos Abtreibung. Sapporo, Anfang März. Der Boden war hartgefroren, und ab und an rieselten ein paar Schneeflocken herab. Ich war wieder auf diesen Straßen, die Lungen voll von gefrorener Luft. Ich sah den weißen Atem aus den Mündern der Leute quellen.
    Und dann begriff ich: da hatte alles begonnen, sich zu ändern. Ja, eindeutig. Das war ein Wendepunkt gewesen. Danach hatte der Fluß um mich herum Anzeichen von Veränderung erkennen lassen. Nachträglich betrachtet, war die Abtreibung für uns beide ein Ereignis von einschneidender Bedeutung gewesen; doch damals hatte ich seine wahre Bedeutung nicht erkennen können. Ich war viel zu sehr vom Ereignis der Abtreibung abgelenkt gewesen, und dabei mochte das eigentlich Wichtige etwas ganz anderes gewesen sein.
    Ich mußte es tun, hatte sie gesagt. Ich wußte irgendwie, daß es das Richtige war, das Beste für uns beide. Aber da ist noch etwas anderes, etwas, wovon du nichts weißt, etwas, was ich noch nicht in Worte fassen kann. Ich will dir nichts verheimlichen. Es ist nur, daß ich mir nicht sicher bin, ob es etwas Wirkliches ist. Und deswegen kann ich es noch nicht in Worte fassen.
    Damals war sie sich nicht sicher gewesen, ob dieses Etwas wirklich war. Und dieses Etwas hatte zweifellos eher mit der Schwangerschaft als mit der Abtreibung zusammengehangen. Vielleicht hatte es etwas mit dem Kind in ihrem Bauch zu tun gehabt. Was konnte es gewesen sein? Was hatte sie dermaßen verwirrt? Hatte sie ein Verhältnis mit einem anderen Mann gehabt und wollte sein Kind nicht austragen? Nein, das war ausgeschlossen. Sie hatte selbst gesagt, daß es ausgeschlossen war. Es war mein Kind gewesen, so viel war

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