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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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aber als ich es in der Hand hielt, war es viel schwerer, als es aussah. Es war nicht nur schwer, sondern hatte etwas sonderbar Gewichtiges, als stecke etwas darin, was den Atem anhielt. Nach einem Moment der Unschlüssigkeit riß ich den Umschlag auf- früher oder später würde ich es ohnehin tun müssen. Darin befand sich ein säuberliches Bündel von Zehntausend-Yen-Scheinen, brandneuen, makellos glatten Zehntausend-Yen-Scheinen. Sie sahen überhaupt nicht echt aus, so neu waren sie, obwohl mir kein Grund einfiel, warum sie nicht hätten neu sein sollen. Es waren insgesamt zwanzig Banknoten. Ich zählte sie zur Sicherheit ein zweitesmal. Ja, kein Zweifel: zwanzig Scheine. Zweihunderttausend Yen.
    Ich schob das Geld wieder in den Umschlag und den Umschlag in meine Tasche. Dann nahm ich die Gabel vom Tisch und starrte sie ohne Grund an. Als erstes kam mir in den Sinn, daß ich mir von dem Geld ein neues Paar Schuhe kaufen würde. Das brauchte ich am dringendsten. Ich zahlte und ging wieder auf den Shinjuku-Boulevard hinaus, wo es ein großes Schuhgeschäft gab. Ich suchte mir ganz gewöhnliche blaue Turnschuhe aus und sagte dem Verkäufer meine Größe, ohne mich nach dem Preis zu erkundigen. Wenn sie paßten, sagte ich, würde ich sie gleich anbehalten. Der Verkäufer (der vielleicht auch der Besitzer war) fädelte weiße Schnürsenkel durch die Ösen beider Schuhe und fragte: »Was darf ich mit Ihren alten Schuhen tun?« Ich sagte, er könne sie wegwerfen, aber dann überlegte ich es mir anders und sagte, ich würde sie mit nach Hause nehmen. Er schenkte mir ein reizendes Lächeln. »Für ein Paar guter, alter Schuhe hat man immer noch Verwendung, auch wenn sie ein bißchen mitgenommen sind«, sagte er, wie um mir zu verstehen zu geben, daß er es tagtäglich mit so schmutzigen Schuhen zu tun habe. Er legte die alten Schuhe in den Karton, dem er die neuen entnommen hatte, und steckte den Karton in eine Einkaufstüte. In ihrer neuen Schachtel sahen die alten Tennisschuhe aus wie kleine Tierleichen. Ich zahlte mit einem der knisternd neuen Zehntausend-Yen-Scheine aus dem Kuvert und erhielt ein paar weniger neue Tausend-Yen-Scheine zurück. Ich nahm die Tüte mit den alten Schuhen, stieg in den Zug nach Odakyu und fuhr nach Hause. Von heimkehrenden Pendlern umgeben, hielt ich mich an der Schlaufe fest und dachte an die neuen Sachen, die ich anhatte - neue Unterhose, neues T-Shirt und neue Schuhe.
     
    Wieder zu Hause, setzte ich mich wie gewohnt an den Küchentisch, trank ein Bier und hörte mir Musik im Radio an. Dann wurde mir bewußt, daß ich gern mit jemandem geredet hätte - über das Wetter, über die Dummheit der Politiker; über was auch immer. Ich wollte einfach nur mit jemandem reden, aber mir fiel beim besten Willen niemand ein, kein Mensch, mit dem ich hätte reden können. Nicht mal der Kater war da.
     
    Am nächsten Morgen musterte ich beim Rasieren wie gewohnt das Mal auf meinem Gesicht. Ich konnte keinerlei Veränderung feststellen. Ich setzte mich auf die Veranda und verbrachte zum ersten Mal seit langem wieder den ganzen Tag damit, den Garten zu betrachten. Es war ein schöner Morgen, ein schöner Nachmittag. Das Laub der Bäume flirrte in der Frühlingsbrise. Ich holte das Kuvert mit den neunzehn Zehntausend-Yen-Scheinen aus der Jackentasche und legte es in meine Schreibtischschublade. Es lag mir noch immer merkwürdig schwer in der Hand. Dieses Gewicht schien etwas zu bedeuten, aber ich kam nicht darauf, was es war. Mit einemmal begriff ich, daß es mich an etwas erinnerte. Was ich getan hatte, erinnerte mich an irgend etwas. Ich starrte gebannt auf den Umschlag in der Schublade und versuchte, mich zu entsinnen, aber es gelang mir einfach nicht.
    Ich schloß die Schublade, ging in die Küche und machte mir einen Tee, und als ich an der Spüle stand und ihn trank, da fiel es mir ein. Was ich gestern getan hatte, glich der Arbeit, die Kreta Kano als Callgirl getan hatte. Man geht zu einem angegebenen Ort, schläft mit jemandem, den man nicht kennt, und wird bezahlt. Ich hatte nicht wirklich mit der Frau geschlafen (nur in die Hose ejakuliert), aber sonst war es das gleiche. Ich brauchte eine bestimmte Summe, und um sie zu bekommen, hatte ich jemandem meinen Körper angeboten. Darüber dachte ich nach, während ich meinen Tee trank. In der Ferne bellte ein Hund. Kurz danach hörte ich ein kleines Propellerflugzeug. Aber ich bekam meine Gedanken nicht auf einen Punkt. Wieder ging ich auf die Veranda

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