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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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und sah auf den Garten, der in der Nachmittagssonne lag. Als ich davon genug hatte, betrachtete ich meine Handflächen. Sich vorzustellen, daß ich zur Prostituierten geworden war! Wer hätte je gedacht, daß ich einmal meinen Körper verkaufen würde? Oder daß ich mir von dem Geld als erstes neue Turnschuhe kaufen würde? Ich hatte das Bedürfnis, uneingezäunte Luft zu atmen, und so beschloß ich, einkaufen zu gehen. Meine neuen Turnschuhe an den Füßen, ging ich die Straße entlang. Ich hatte das Gefühl, diese neuen Schuhe hätten mich in einen neuen Menschen verwandelt, völlig verschieden von dem, der ich bisher gewesen war. Auch das Straßenbild und die Gesichter der Leute, an denen ich vorüberkam, sahen verändert aus. Im Supermarkt kaufte ich Gemüse, Eier und Milch, Tintenfisch und ungemahlenen Kaffee und bezahlte mit den Scheinen, die man mir am Abend zuvor im Schuhgeschäft herausgegeben hatte. Es drängte mich, der rundgesichtigen Matrone an der Kasse zu erzählen, daß ich dieses Geld am Tag zuvor verdient hatte, indem ich meinen Körper verkaufte. Ich hatte zweihunderttausend Yen verdient. Zweihunderttausend Yen! In der Kanzlei, in der ich früher gearbeitet hatte, hätte ich wie ein Sklave schuften und einen Monat lang jeden Tag Überstunden machen können, und wäre mit kaum mehr als hundertfünfzigtausend Yen nach Haus gekommen. Das hätte ich der Frau gern gesagt. Aber natürlich sagte ich nichts. Ich händigte ihr das Geld aus und erhielt eine Papiertüte voller Lebensmittel dafür.
    Eines war sicher: Die Dinge kamen endlich in Bewegung. Das sagte ich mir, als ich, die Einkaufstüte an die Brust gedrückt, heimwärts schlenderte. Jetzt brauchte ich mich nur noch gut festzuhalten, damit ich nicht abgeworfen wurde. Wenn ich das schaffte, würde ich vielleicht irgendwohin gelangen - zumindest irgendwo anders hin.
     
    Meine Vorahnung hatte mich nicht getäuscht. Als ich zu Hause ankam, begrüßte mich der Kater. Als ich die Haustür aufschloß, stieß er ein lautes Miau aus, als habe er schon den ganzen Tag auf mich gewartet, und kam mir entgegen, den Schwanz mit der geknickten Spitze hoch erhoben. Es war Noboru Wataya, der seit fast einem Jahr Vermißte. Ich setzte die Einkaufstüte ab und nahm ihn mit Schwung in die Arme.

5
    E IN ORT, DEN SIE ERRATEN KÖNNEN,
    WENN SIE WIRKLICH GANZ,
    GANZ SCHARF NACHDENKEN
    (MAY KASAHARAS STANDPUNKT: 1)
     
    Hallo, Mister Aufziehvogel.
    Ich wette, Sie glauben, ich hocke irgendwo in einem Klassenzimmer mit einem aufgeschlagenen Schulbuch vor der Nase und pauke wie eine ganz normale Schülerin. Klar, als wir uns das letzte Mal gesehen haben, hab ich Ihnen gesagt, ich würde auf » eine andere Schule « gehen, also wär’s ganz normal, wenn Sie das annähmen. Und Tatsache ist, ich bin auf eine andere Schule gegangen, ein privates Mädcheninternat, weit, weit weg, ein richtig schickes, mit großen sauberen Zimmern wie im Hotel und einer Cafeteria, wo man alles zu essen bekam, was man nur wollte, mit großen, funkelnagelneuen Tennisplätzen und einem Swimmingpool, also natürlich auch entsprechend teuer: ein Internat für reiche Mädchen. Für schwererziehbare reiche Mädchen. Sie können sich ’s ja vorstellen - eine oberpiekfeine geschlossene Lernanstalt in den Bergen. Ringsum lief eine hohe Mauer mit Stacheldraht oben drauf, und es gab so ein riesiges Eisentor, das nicht mal Godzilla persönlich eingetreten gekriegt hätte, und Wachleute, die wie die Zombies rund um die Uhr ums Haus stapften - weniger, damit keiner von draußen reinkam, als damit niemand von drinnen entwischte.
    Jetzt werden Sie mich bestimmt fragen: » Was gehst du denn an so einen fürchterlichen Ort, wenn du weißt, daß es da so fürchterlich ist? « Und Sie haben natürlich recht, aber ich hatte keine andere Wahl. Ich wollte vor allen Dingen eins: von zu Haus wegkommen, aber nach dem ganzen Ärger, den ich verursacht hatte, war das die einzige Schule, die » die Gnade « hatte, mich aufzunehmen. Also hab ich mir fest vorgenommen, die Zähne zusammenzubeißen und die Sache durchzustehen. Aber es war echt fürchterlich da. Man sagt, etwas sei » ein Alptraum « , aber das war noch schlimmer. Ich hatte dort wirklich Alpträume - jede Nacht -, und ich wachte pitschnaßgeschwitzt auf, aber trotzdem wäre es mir lieber gewesen, ich hätte weitergeträumt, denn meine Alpträume waren immer noch um Längen besser als die Wirklichkeit in dem Bunker. Ich wüßte gern, ob Sie eine Ahnung haben, wie

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