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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Bruder erinnerte, aber das war nur ein kleiner Scherz unter uns gewesen, nicht der richtige Name des Katers. Tatsächlich hatten wir sechs Jahre verstreichen lassen, ohne ihm einen Namen zu geben.
    Doch Scherz hin oder her, Noboru Wataya war kein Name für einen Kater, der unser Kater war. Der echte Noboru Wataya war im Laufe dieser sechs Jahre einfach zu übermächtig geworden, zu allgegenwärtig - besonders, seit er ins Parlament gewählt worden war. Dem Kater diesen Namen für den Rest seines Lebens aufzuhalsen, kam überhaupt nicht in Frage. Solange er in diesem Haus blieb, würde er einen neuen Namen brauchen, einen eigenen - und je eher er ihn erhielt, desto besser. Es mußte ein einfacher, griffiger, realistischer Name sein, etwas, das man sehen und anfassen konnte, etwas, das einen den Klang und die Bedeutung des Namens Noboru Wataya vergessen ließ.
    Ich holte den Teller herein, auf dem sich der Tintenfisch befunden hatte. Er sah wie frisch gespült und abgetrocknet aus. Dem Kater hatte seine Mahlzeit offenbar geschmeckt. Ich freute mich, daß ich auf die Idee, Tintenfisch zu kaufen, gerade an dem Tag gekommen war, den sich der Kater für seine Heimkehr ausgesucht hatte; es kam mir wie ein gutes Omen vor - gut für mich wie für den Kater. Ja, das war’s: Ich würde ihn »Oktopus« nennen. Ich kraulte ihn hinter den Ohren und setzte ihn von der Veränderung in Kenntnis: »Du bist nicht mehr Noboru Wataya«, sagte ich. »Von nun an heißt du Oktopus.« Ich hätte es am liebsten in die Welt hinausgeschrien.
    Ich setzte mich neben Kater Oktopus auf die Veranda und las ein Buch, bis die Sonne allmählich unterging. Der Kater schlief so fest, als habe man ihn mit Schlägen betäubt. Seine ruhiges Atmen gemahnte an einen fernen Blasebalg, der seinen Körper langsam, im Takt des Geräusches, hob und senkte. Ab und zu streckte ich die Hand aus, um seine Wärme zu spüren und mich zu vergewissern, daß er wirklich da war. Es war herrlich, das tun zu können: die Hand auszustrecken und etwas zu berühren, etwas Warmes zu spüren. Ich hatte das Gefühl richtig vermißt.
     
    Oktopus war am nächsten Morgen noch da. Er war nicht verschwunden. Als ich aufwachte, schlief er neben mir, mit ausgestreckten Beinen auf der Seite liegend. Er mußte während der Nacht aufgewacht sein und sich geputzt haben. Vom Schlamm und den verklebten Haarbüscheln war nichts mehr zu sehen. Fast war er wieder der Alte; er hatte schon immer ein schönes Fell gehabt. Ich hielt ihn eine Weile in den Armen, dann machte ich ihm sein Frühstück und gab ihm frisches Wasser. Danach entfernte ich mich ein Stück von ihm und versuchte, ihn bei seinem neuen Namen zu rufen: »Oktopus.« Schließlich, beim dritten Versuch, drehte er sich nach mir um und miaute einmal leise.
    Jetzt war es Zeit, daß ich meinen neuen Tag begann. Der Kater war zu mir zurückgekehrt, und ich mußte meinerseits zusehen, daß ich ein wenig vorankam. Ich duschte und bügelte ein frisch gewaschenes Hemd. Ich zog eine Baumwollhose und meine neuen Turnschuhe an. Der Himmel war diesig und bedeckt, aber es war nicht besonders kalt. Ich beschloß, mich mit einem dickeren Pullover zu begnügen und den Mantel zu Hause zu lassen. Wie gewohnt nahm ich den Zug nach Shinjuku, ging durch die Unterführung zum Westausgang des Bahnhofs und weiter zu dem kleinen Platz und setzte mich auf meine gewohnte Bank.
     
    Die Dame tauchte kurz nach drei auf. Anscheinend erstaunte es sie nicht, mich zu sehen, und ich war nicht überrascht, als sich näherte. Unsere Begegnung wirkte vollkommen natürlich. Als sei alles im voraus abgesprochen gewesen, wechselten wir keine Begrüßungen. Ich hob ein wenig den Kopf, und sie sah mich mit leicht zuckenden Lippen an.
    Sie trug eine frühlingshafte orangefarbene Baumwollbluse, einen engen topasbraunen Rock und kleine goldene Ohrringe. Sie setzte sich neben mich und holte wie immer eine Packung Virginia Slims aus ihrer Handtasche, steckte sich eine Zigarette in den Mund und zündete sie sich mit einem schlanken goldenen Feuerzeug an. Diesmal wußte sie, daß sie mir keine anzubieten brauchte. Nachdem sie, offenbar tief in Gedanken, zwei, drei entspannte Züge getan hatte, ließ sie die Zigarette auf den Boden fallen, als prüfe sie die Schwerkraftverhältnisse des Tages. Dann klopfte sie mir aufs Knie, sagte »Kommen Sie mit« und stand auf. Ich trat ihre Zigarette aus und folgte ihr. Sie winkte ein vorbeifahrendes Taxi heran und stieg ein. Ich setzte mich

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