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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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genau, was ich da tue, aber ich kann ’s einfach nicht lassen. Das ist mein größter Fehler.
    Ich glaube nicht, daß Sie mich jemals vergewaltigen würden, Mister Aufziehvogel. Das ist mir jetzt irgendwie klar. Nicht, daß Sie das niemals, unter keinen Umständen, tun würden (ich meine, niemand weiß wirklich sicher, was mal passieren wird), aber vielleicht, daß Sie das zumindest nicht tun würden, um mich durcheinanderzubringen. Ich weiß nicht genau, wie ich es formulieren soll, aber das ist das Gefühl, das ich so habe.
    OK, genug von Vergewaltigungen.
    Jedenfalls, auch wenn ich mit einem Jungen ausgehen würde, wär ich einfach nicht imstande, mich gefühlsmäßig zu konzentrieren. Ich würde lächeln und plaudern, und mein Kopf wäre irgendwo ganz woanders, wie ein Luftballon, bei dem die Schnur gerissen ist. Ich würde an lauter nicht zur Sache gehörige Dinge denken. Ich weiß nicht, vielleicht ist es letztlich nur so, daß ich noch eine Weile allein bleiben will. Und ich will meinen Gedanken freien Lauf lassen. In diesem Sinne bin ich wohl noch immer » auf dem Weg der Besserung « .
    Ich meld mich bald wieder. Das nächste Mal kann ich wahrscheinlich auf dies und das ein bißchen näher eingehen …
     
    PS: Bevor der nächste Brief kommt, versuchen Sie zu erraten, wo ich bin und was ich tue.

6
    M USKAT UND ZIMT
     
    Der Kater war von der Nase bis zur Schwanzspitze mit Klümpchen von eingetrocknetem Schlamm bedeckt, sein Fell war zu Büscheln verklebt, als habe er sich lange im Matsch gewälzt. Als ich ihn hochnahm und gründlich untersuchte, schnurrte er angeregt. Er war vielleicht ein bißchen abgemagert, sonst aber sah er aus wie damals, als ich ihn zuletzt gesehen hatte: sein Gesicht, sein Körper, sein Fell waren unverändert. Seine Augen waren klar, und er hatte keine Verletzungen. Er wirkte gewiß nicht wie ein Kater, der ein Jahr lang verschollen gewesen war; eher so, als habe er gerade mal eine heiße Nacht hinter sich. Ich gab ihm auf der Veranda zu fressen: einen Teller mit den Tintenfischstücken, die ich im Supermarkt gekauft hatte. Er war sichtlich ausgehungert. Er verputzte die Fischstücke mit solcher Gier, daß er sich ab und zu verschluckte und einzelne Stückchen wieder auf den Teller spie. Ich fand unter der Spüle den Wassernapf des Katers und füllte ihn bis zum Rand. Er trank ihn fast leer. Nachdem das erledigt war, begann er, sein schlammverkrustetes Fell zu lecken, doch dann fiel ihm anscheinend plötzlich wieder ein, daß ich da war; er sprang mir auf den Schoß, kringelte sich zusammen und schlief ein.
    Der Kater schlief mit den Vorderpfoten unter dem Körper, das Gesicht in seinen Schwanz geschmiegt. Anfangs schnurrte er noch laut, dann aber immer leiser, bis er schließlich verstummte und, völlig wehrlos, in tiefen Schlaf versank. Ich saß in einer sonnigen Ecke der Veranda und streichelte ihn sanft, um ihn nicht zu wecken. Ich hatte schon sehr lange nicht mehr daran gedacht, wie sich der Kater anfühlte, so warm und weich. So viele Dinge waren mir geschehen, daß ich das Verschwinden des Katers fast vergessen hatte. Aber als ich dieses kleine weiche Geschöpf nun auf dem Schoß hielt, das voll Vertrauen in mich schlief, wurde mir ganz warm ums Herz. Ich legte die Hand auf die Brust des Katers und fühlte sein Herz schlagen. Der Puls war schwach und schnell, aber sein Herz tickte die Zeit, die diesem kleinen Körper zugeteilt war, mit dem gleichen unermüdlichen Ernst ab wie meines. Wo war dieser Kater nur ein Jahr lang gewesen? Was hatte er getrieben? Warum hatte er sich jetzt auf einmal entschlossen zurückzukommen? Und wo waren die Spuren seiner verlorenen Zeit? Nur zu gern hätte ich ihm all diese Fragen gestellt. Hätte er mir nur antworten können!
    Ich holte ein altes Kissen auf die Veranda und legte den Kater darauf. Er war so schlapp wie ein Armvoll Wäsche. Als ich ihn aufhob, gingen seine Augen einen Schlitzbreit auf, und er öffnete den Mund, gab aber keinen Laut von sich. Er rollte sich auf dem Kissen zusammen, gähnte und schlief wieder ein. Als ich mich vergewissert hatte, daß er bequem lag, ging ich in die Küche und räumte die Lebensmittel, die ich eingekauft hatte, an ihren Platz. Das Tofu, das Gemüse und den restlichen Tintenfisch legte ich in die jeweiligen Kühlschrankfächer. Dann warf ich einen Blick auf die Veranda. Der Kater schlief noch immer in derselben Haltung. Wir hatten ihn immer Noboru Wataya genannt, weil sein Blick an den von Kumikos

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