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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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vollständigen Satz zu erweitern: »Aber warum tun Sie das alles - mich vollständig neu einkleiden, mir Friseur und Wäscherechnung bezahlen?«
    Sie gab mir keine Antwort. Statt dessen holte sie eine Virginia Slim aus ihrer Handtasche und steckte sie sich in den Mund. Ein hochgewachsener Kellner mit regelmäßigen Gesichtszügen tauchte aus dem Nichts an ihrer Seite auf und gab ihr routiniert Feuer; er riß das Streichholz mit einem sauberen, trockenen, ja appetitanregenden Geräusch an. Dann reichte er uns die Speisekarten. Sie warf jedoch nicht einmal einen Blick hinein und sagte zu dem Kellner, er könne sich die Mühe sparen, ihr die Tagesgerichte aufzuzählen. »Bringen Sie mir einen Salat und ein Brötchen und irgendeinen Fisch mit weißem Fleisch. Auf dem Salat nur ein paar Tropfen Dressing und einen Hauch Pfeffer. Und ein Glas Mineralwasser, ohne Eis.« Ich hatte keine Lust, mir die Karte anzusehen. »Für mich das gleiche«, sagte ich. Der Kellner verneigte sich knapp und entschwand. Meine Wirklichkeit tat sich offenbar noch immer schwer, mich ausfindig zu machen. Ich unternahm einen weiteren Versuch, ihr eine Erklärung abzulocken. »Ich frage aus reiner Neugier - ich möchte Sie gewiß nicht kritisieren, nachdem Sie mir all die Sachen gekauft haben, aber ist es wirklich den ganzen Aufwand an Zeit und Geld und Mühe wert?« Sie gab noch immer keine Antwort. »Ich bin einfach nur neugierig«, sagte ich noch einmal.
    Wieder keine Antwort. Sie war zu sehr damit beschäftigt, das Ölgemälde an der Wand zu betrachten, als daß sie auf meine Frage hätte antworten können. Das Bild stellte eine italienische Landschaft dar, nahm ich an, mit einer wohlgestutzten Kiefer und mehreren rötlichen Bauernhäusern am Fuß der Hügel. Die Häuser waren alle klein, aber freundlich. Ich fragte mich, was für Leute in solchen Häusern wohnen mochten: wahrscheinlich ganz normale Leute, die ein ganz normales Leben führten. Keiner von ihnen mußte sich mit unergründlichen Frauen herumschlagen, die aus dem Nichts auftauchten und ihnen Anzüge und Schuhe und Uhren kauften. Keiner von ihnen mußte sich den Kopf darüber zerbrechen, welch ungeheure Beträge er benötigen würde, um einen ausgetrockneten Brunnen zu erstehen. Bei dem Gedanken an Leute, die in einer so normalen Welt lebten, erwachte in mir der Neid. Neid ist kein Gefühl, das ich sehr oft empfinde, aber die Szene auf dem Gemälde löste dieses Gefühl in überraschendem Maße aus. Hätte ich doch nur in diesem Augenblick in das Bild steigen können! Hätte ich doch nur in eines dieser Bauernhäuser hineinspazieren, ein Gläschen Wein trinken und dann in die Federn kriechen und ohne einen Gedanken im Kopf einschlafen können!
    Bald darauf kam der Kellner und stellte vor die Dame und mich je ein Glas Mineralwasser. Sie drückte ihre Zigarette im Aschenbecher aus. »Warum fragen Sie mich nicht etwas anderes?« sagte sie.
    Während ich mir eine andere Frage überlegte, nahm sie einen Schluck von ihrem Mineralwasser.
    »War dieser junge Mann im Büro in Akasaka Ihr Sohn?« fragte ich. »Natürlich«, antwortete sie, ohne zu zögern. »Kann er nicht sprechen?« Die Dame schüttelte den Kopf. »Er hat von Anfang an nicht viel gesprochen, aber dann, ganz plötzlich, mit sechs, ist er völlig verstummt. Er benutzte seine Stimme überhaupt nicht mehr.«
    »Gab es einen Grund dafür?«
    Diese Frage überhörte sie. Ich versuchte, mir eine andere auszudenken. »Wenn er nicht redet, wie kann er sich dann um die Geschäfte kümmern?« Sie runzelte kaum merklich die Stirn. Sie hatte meine Frage nicht überhört, aber offenbar hatte sie nicht die Absicht, sie zu beantworten.
    »Ich wette, Sie haben alles ausgesucht, was er trägt, von Kopf bis Fuß. So wie Sie es bei mir gemacht haben.«
    »Ich mag es nicht, wenn Leute das Falsche tragen. Das ist alles. Ich kann es einfach nicht ertragen - nicht tolerieren. Ich will, daß wenigstens die Menschen in meiner Umgebung so gut wie möglich gekleidet sind. Ich will, daß alles an ihnen gut aussieht, gleichgültig, ob es nun sichtbar ist oder nicht.«
    »Dann wird Ihnen mein Blinddarm wahrscheinlich nicht gefallen«, sagte ich. Das war als Witz gemeint.
    »Bereitet Ihnen das Aussehen Ihres Blinddarms Sorgen?« fragte sie und sah mir dabei vollkommen ernst ins Gesicht. Ich bereute meinen Witz. »Nein, im Moment nicht«, sagte ich. »Das war nur so dahergesagt, als Beispiel.« Sie ließ ihren forschenden Blick noch eine Weile auf mir ruhen

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