Mister Aufziehvogel
das ist, Mister Aufziehvogel. Ich wüßte gern, ob Sie jemals so in der Patsche gesessen haben.
Und so bin ich dann nur ein Halbjahr in diesem Luxushotel/Knast/Internat geblieben. Als ich in den Frühlingsferien nach Haus gekommen bin, habe ich meinen Eltern klipp und klar gesagt, wenn ich da wieder hinmuß, bring ich mich um. Ich stopf mir drei Tampons in den Hals und trink eimerweise Wasser; ich schneid mir die Pulsadern auf; ich mach einen Köpper vom Dach der Schule. Und es war mir absolut ernst. Das war kein Witz. Meine Eltern haben beide zusammengenommen so viel Phantasie wie ein Laubfrosch, aber sie wußten - aus Erfahrung -, daß es keine leere Drohung ist, wenn ich so rede.
Na, also jedenfalls bin ich dahin nicht wieder zurück. Den ganzen März bis in den April rein bin ich nicht aus dem Haus gegangen, hab gelesen, ferngesehen und einfach Löcher in die Luft gestarrt. Und hundertmal am Tag hab ich gedacht, ich möchte Mister Aufziehvogel sehen. Ich hätte mich am liebsten auf die Gasse geschlichen, wär über den Zaun gesprungen und hätt mich richtigschön lang mit Ihnen unterhalten. Aber das ging nicht so einfach. Das wär bloß ein zweiter Aufguß des Sommers gewesen. Also hab ich von meinem Zimmer aus die Gasse beobachtet und mich dauernd gefragt: Was treibt Mister Aufziehvogel jetzt wohl? Der Frühling breitet sich still und leise über die ganze Welt aus, und in dieser Welt ist auch Mister Aufziehvogel drin, aber was passiert in seinem Leben? Ist Kumiko zu ihm zurückgekehrt? Was läuft mit diesen komischen Frauen: Malta Kano und Kreta Kano? Ist Kater Noboru Wataya wieder zurück? Ist das Mal von Mister Aufziehvogels Backe verschwunden …?
Nach einem Monat von diesem Leben hab ich ’s nicht mehr ausgehalten. Ich weiß nicht, wie oder wann das passiert ist, aber für mich ist dieses Viertel jetzt nur noch » Mister Aufziehvogels Welt « , und wenn ich da drin bin, bin ich bloß » ich in Mister Aufziehvogels Welt « . Und das ist nicht nur so dahergesagt. Sie können natürlich nichts dafür, aber trotzdem … Also mußte ich mir meinen eigenen Platz finden. Ich hab drüber nachgedacht und gedacht und gedacht, und plötzlich wußte ich, wo ich hinmußte.
(Tip) Das ist ein Ort, den Sie erraten können, wenn Sie wirklich ganz, ganz scharf nachdenken. Wenn Sie sich richtig anstrengen, kommen Sie drauf, wo ich bin. Es ist keine Schule, es ist kein Hotel, es ist kein Krankenhaus, es ist kein Gefängnis, es ist kein Haus. Es ist so was wie ein ganz besonderer Ort ganz weit weg. Es ist … ein Geheimnis. Vorläufig wenigstens.
Ich bin wieder im Gebirge, und wieder läuft eine Mauer um das Ganze (aber keine so riesig hohe), und es gibt ein Tor und einen netten alten Mann, der das Tor bewacht, aber man kann ein und aus gehen, wann man will. Es ist ein riesiges Stück Land, mit eigenen Wäldchen und einem Teich, und wenn man bei Sonnenaufgang einen Spaziergang macht, sieht man einen Haufen Tiere: Löwen und Zebras und - nein, war ein Witz, aber man kann süße kleine Tiere sehen, wie Dachse und Fasane. Es gibt ein Wohnheim, und da wohne ich.
Ich schreibe diesen Brief in einem winzigen Zimmerchen an einem winzigen Schreibtisch vor einem winzigen Bett unter einem winzigen Hängeregal neben einem winzigen Schrank, wovon nichts die allerkleinste Verzierung hat und alles auf die allerschlichteste Zweckdienlichkeit ausgelegt ist. Auf dem Schreibtisch befinden sich eine Leuchtstofflampe, eine Teetasse, das Schreibpapier für diesen Brief und ein Wörterbuch. Ehrlich gesagt benutz ich das Wörterbuch so gut wie nie. Ich mag Wörterbücher einfach nicht. Ich mag nicht, wie sie aussehen, und ich mag nicht, was drin steht. Immer wenn ich ein Wörterbuch benutze, verzieh ich das Gesicht und denke: Wer braucht denn so was zu wissen? Leute wie ich kommen mit Wörterbüchern nicht besonders gut aus. Angenommen, ich schlag » Transition « nach, und da steht: » Phase des Wechsels zu etwas anderem, neuem, in ein anderes Stadium « . Ich denke: Na und? Das hat nix mit mir zu tun. Wenn ich also ein Wörterbuch auf meinem Schreibtisch seh, dann ist das für mich so, als würde ich irgendeinen fremden Hund sehen, der gerade einen Kackekringel auf unseren Rasen setzt. Aber egal, ich hab mir ein Wörterbuch gekauft, weil ich dachte, wenn ich Ihnen schreibe, Mister Aufziehvogel, muß ich vielleicht ab und zu was nachschlagen. Außerdem habe ich ein Dutzend Bleistifte, alle angespitzt und ordentlich in einer Reihe
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