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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Zimts hartnäckiges Schweigen zu finden. Er führte mit dem Kind einen Intelligenztest durch, aber hier war alles in Ordnung. Ja, Zimt hatte sogar einen ungewöhnlich hohen IQ, stellte sich heraus. Der Arzt fand bei ihm auch keine Hinweise auf emotionale Probleme. »Hat er möglicherweise einen Schock erlebt?« fragte der Psychiater Muskat. »Versuchen Sie, sich zu erinnern. Könnte er etwas Abnormales miterlebt haben oder zu Hause mißhandelt worden sein?« Aber Muskat fiel nichts ein. An einem Tag war ihr Sohn noch in jeder Hinsicht normal gewesen: Er hatte normal gegessen, hatte sich normal mit ihr unterhalten, war zu seiner gewohnten Zeit ins Bett gegangen und ohne Schwierigkeiten eingeschlafen. Und am nächsten Morgen war er in eine Welt tiefen Schweigens versunken. Zu Hause hatte es keinerlei Probleme gegeben. Der Junge wuchs unter den allzeit wachsamen Augen von Muskat und ihrer Mutter auf, und keine von beiden hatte je die Hand gegen ihn erhoben. Schließlich erklärte der Arzt, man könne nichts anderes tun, als ihn beobachten und hoffen, daß sich etwas ergäbe. Solange man die Ursache nicht kenne, gebe es keine Möglichkeit, ihn zu behandeln. Muskat sollte Zimt einmal die Woche vorbeibringen und sich unterdessen überlegen, was geschehen sein könnte. Es sei auch möglich, daß er irgendwann spontan wieder zu sprechen anfangen würde, wie jemand, der aus einem Traum erwacht. Sie könnten nur abwarten. Sicher, das Kind spreche nicht, aber sonst sei mit ihm alles in Ordnung … Und so warteten sie, aber Zimt tauchte nie wieder an die Oberfläche seines tiefen Ozeans des Schweigens.
     
    Mit einem leisen Summen des Elektromotors schwang das Tor um neun Uhr früh langsam einwärts auf, und Zimts Mercedes 500 SEL rollte in die Einfahrt. Die Antenne des Autotelefons ragte wie ein soeben gesprossenes Fühlhorn aus der Heckscheibe. Ich spähte durch einen Spalt der Jalousie. Der Wagen sah wie ein riesiger, furchtloser Wanderfisch aus. Die brandneuen schwarzen Reifen zogen einen lautlosen Bogen über die Betonfläche und kamen an der vorgesehenen Stelle zum Stehen. Sie zogen jeden Morgen exakt dieselbe Bogenlinie und blieben immer, mit einer täglichen Abweichung von wahrscheinlich nicht mehr als fünf Zentimetern, an exakt derselben Stelle stehen.
    Ich trank gerade den Kaffee, den ich mir vor wenigen Minuten aufgegossen hatte. Der Regen hatte aufgehört, aber der Himmel war mit grauen Wolken bedeckt, und der Boden war noch schwarz und kalt und naß. Die Vögel huschten auf der Suche nach Würmern über den Boden und stießen dabei spitze Schreie aus. Nach kurzer Pause öffnete sich die Fahrertür, und Zimt stieg aus. Er trug eine Sonnenbrille. Nach einem raschen Blick in die Runde nahm er die Brille ab und ließ sie in die Brusttasche gleiten. Dann schloß er die Wagentür. Das knappe Geräusch, mit dem die Tür des großen Mercedes ins Schloß fiel, war absolut unverwechselbar. Für mich bezeichnete dieses Geräusch den Beginn eines weiteren Tages in der Zentrale.
    Ich hatte den ganzen Morgen über Ushikawas Besuch nachgedacht und mich gefragt, ob ich Zimt erzählen sollte, daß Ushikawa in Noboru Watayas Auftrag versucht hatte, mich dazu zu bewegen, daß ich mich aus den Aktivitäten in diesem Haus zurückzog. Am Ende beschloß ich allerdings, ihm nichts zu sagen - einstweilen jedenfalls. Diese Sache mußten Noboru Wataya und ich unter uns ausmachen. Ich wollte keinen Dritten dabeihaben.
    Zimt hatte wie immer einen eleganten Anzug an. Alle seine Anzüge waren von bester Qualität, maßgeschneidert und tadellos sitzend. Sie waren gewöhnlich recht konservativ geschnitten, aber an ihm wirkten sie jugendlich, als verwandelten sie sich durch Zauberei in die allerneueste Mode.
    Natürlich trug er eine neue Krawatte, eine, die zum heutigen Anzug paßte. Auch sein Hemd und seine Schuhe kannte ich noch nicht. Seine Mutter, Muskat, hatte ihm wahrscheinlich alles ausgesucht, wie sie es immer tat. Seine ganze Erscheinung war ebenso tadellos wie der Mercedes, den er fuhr. Jeden Morgen erfüllte mich sein Anblick aufs neue mit Bewunderung - ja, ich könnte sogar sagen, er rührte mich an. Was für ein Geschöpf mochte sich nur unter diesem vollkommenen Äußeren verbergen?
     
    Zimt holte zwei Einkaufstüten voll Lebensmitteln und anderen Dingen aus dem Kofferraum und betrat mit ihnen die Zentrale. Wie er sie an die Brust gedrückt hielt, sahen selbst diese gewöhnlichen Papiertüten aus dem Supermarkt elegant und originell

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