Mister Aufziehvogel
wenigstens an das Faktum meiner Existenz zu gewöhnen. Ich habe persönlich nicht das geringste gegen Sie, Herr Okada. Ehrlich. Aber für die nächste Zeit werde ich, ob’s Ihnen paßt oder nicht, eins der Dinge sein, die Sie nicht einfach beiseite schieben können. Ich weiß, das muß merkwürdig klingen, aber versuchen Sie bitte, meine Person so zu betrachten. Eines kann ich Ihnen allerdings versprechen. Ich werde Ihr Haus nie wieder eigenmächtig betreten. Sie haben völlig recht: das ist wirklich kein Benehmen. Ich sollte mich eigentlich hinknien und darum betteln, daß man mich einläßt. Diesmal hatte ich keine andere Wahl. Versuchen Sie, mich zu verstehen. Ich bin nicht immer so rücksichtslos. Auch wenn’s nicht so aussieht, bin ich doch ein Mensch wie jeder andere. Von nun an werde ich mich auch benehmen wie alle anderen und mich telefonisch anmelden. Dann müßte es doch gehen, nicht? Ich werde es einmal klingeln lassen, dann auflegen, dann wieder anrufen. So wissen Sie, daß ich es bin, und Sie können sich sagen: ›Ach, das ist schon wieder dieser dämliche Ushikawa‹, bevor sie abnehmen. Aber nehmen Sie ab. Sonst werde ich keine andere Wahl haben, als wieder selber aufzuschließen. Mir persönlich wäre es lieber, wenn ich das nicht tun müßte, aber ich werde fürs Spuren bezahlt, wenn also mein Boß ›Hopp!‹ sagt, dann muß ich eben springen. Sie verstehen.« Ich erwiderte nichts. Ushikawa drückte das, was von seiner Zigarette noch übrig war, auf dem Boden der Katzenfutterdose aus und warf dann, als sei ihm etwas plötzlich wieder eingefallen, einen Blick auf seine Uhr. »Nein, so was -jetzt sehen Sie doch nur, wie spät es ist! Erst komme ich hier reingeplatzt, dann quassle ich Sie in Grund und Boden und trink Ihnen Ihr Bier weg. Bitte entschuldigen Sie. Wie ich schon sagte, wartet zu Hause niemand auf mich, wenn ich also mal jemanden zum Reden finde, rede ich mich fest. Traurig, finden Sie nicht? Ich will Ihnen was sagen, Herr Okada, allein zu leben ist auf die Dauer nichts. Wie heißt es doch so richtig: ›Kein Mensch ist ein Eiland.‹ Oder war’s ›Müßiggang ist aller Laster Anfang‹?«
Nachdem er sich irgendwelchen imaginären Staub vom Schoß gewischt hatte, stand Ushikawa langsam auf.
»Sie brauchen sich nicht zu bemühen«, sagte er. »Schließlich bin ich von selber reingekommen; da komme ich auch von selber raus. Und keine Sorge, ich schließ ab. Nur noch ein letzter Rat, Herr Okada, auch wenn er Ihnen vielleicht nicht gefallen wird: Es gibt Dinge auf dieser Welt, von denen man besser nichts wissen sollte. Natürlich sind das gerade die Dinge, die die Leute am ehesten wissen wollen. Ist schon komisch. Ich weiß, das klingt sehr allgemein … Wann wir uns wohl wiedersehen? Ich hoffe, die Dinge stehen dann besser. Aber nun gute Nacht.«
Der leise Regen fiel die ganze Nacht weiter und hörte erst gegen Morgen allmählich auf, aber die klebrige Gegenwart dieses seltsamen kleinen Mannes und der Geruch seiner filterlosen Zigaretten blieben so lang im Haus zurück wie die hartnäckige Feuchtigkeit.
14
Z IMTS SELTSAME ZEICHENSPRACHE
DAS MUSIKALISCHE OPFER
»Kurz vor seinem sechsten Geburtstag hörte Zimt für immer auf zu sprechen«, sagte Muskat zu mir. »Es war das Jahr, in dem er hätte eingeschult werden sollen. Im Februar hörte er plötzlich auf zu sprechen. Und so seltsam es klingen mag, wir merkten erst am späten Abend, daß er den ganzen Tag über nichts gesagt hatte. Sicher, sehr gesprächig war er nie gewesen, aber trotzdem … Als ich endlich merkte, was los war, tat ich alles Menschenmögliche, um ihn zum Sprechen zu bewegen. Ich redete auf ihn ein, ich schüttelte ihn; nichts half. Er war wie versteinert. Ich wußte nicht, ob er plötzlich die Fähigkeit zu sprechen verloren hatte oder von sich aus beschlossen hatte, nicht mehr zu sprechen. Und ich weiß es bis heute nicht. Aber er hat nie wieder ein Wort gesagt - hat nie wieder einen Laut von sich gegeben. Er schreit nicht, wenn er Schmerzen hat, und man kann ihn kitzeln, aber er lacht nie so, daß man es hört.«
Muskat brachte ihren Sohn zu mehreren Hals-Nasen-Ohren-Ärzten, aber keiner von ihnen konnte die Ursache feststellen - nur, daß es nichts Organisches war. Hören konnte Zimt einwandfrei; nur sprach er nicht. Alle Ärzte gelangten zu dem Schluß, der Zustand müsse psychisch bedingt sein. Muskat brachte ihn zu einem befreundeten Psychiater, aber auch der war außerstande, eine Ursache für
Weitere Kostenlose Bücher