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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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sichtlich kein einziges Mal benutzt worden waren. Dann füllte er den Müll in eine Tüte, verschloß sie und trug sie hinaus. Er stellte sämtliche Uhren nach seiner Armbanduhr (die, ich hätte darauf wetten können, nie um mehr als drei Sekunden falsch ging). Wenn er im Laufe der Arbeit etwas fand, das auch nur im geringsten verrückt war, stellte er es mit präzisen und eleganten Bewegungen wieder an seinen richtigen Platz. Ich konnte ihn auf die Probe stellen und etwa eine Uhr auf dem Regal um einen Zentimeter nach links verschieben, und am nächsten Morgen würde er sie mit Sicherheit wieder um einen Zentimeter nach rechts rücken.
    Nichts von alldem wirkte bei Zimt zwanghaft; er schien lediglich das Natürliche und »Richtige« zu tun. Vielleicht hatte er in sich ein klares Bild davon, wie die Welt - oder zumindest diese unsere kleine Welt hier - eigentlich »zu sein hatte«, so daß es ihm so natürlich wie das Atmen vorkam, sie in diesem Idealzustand zu halten. Vielleicht betrachtete er seine Tätigkeit nur als eine minimale Hilfestellung, mit die er die Dinge in ihrem angeborenen, unbändigen Streben unterstützte, wieder zu ihrer ursprünglichen Form zurückzukehren. Zimt bereitete Essen vor, stellte es in den Kühlschrank und zeigte mir, was für mich für heute mittag bestimmt war. Ich dankte ihm. Dann stellte er sich vor den Spiegel, zog seine Krawatte gerade, inspizierte sein Hemd und schlüpfte in seine Anzugjacke. Schließlich formte er mit den Lippen lächelnd ein »auf Wiedersehen«, sah sich noch ein letztesmal um und verließ das Haus. Am Steuer des Mercedes sitzend, schob er eine Kassette mit klassischer Musik in die Stereoanlage, drückte auf die Taste der Fernsteuerung, die das Tor öffnete, und fuhr in exakt demselben Bogen, den er bei seiner Ankunft beschrieben hatte, auf die Straße hinaus. Sobald der Wagen passiert hatte, schloß sich das Tor wieder. Eine Tasse Kaffee in der Hand, spähte ich wie vorhin durch einen Spalt der Jalousie. Die Vögel machten nicht mehr so viel Radau wie vor Zimts Ankunft. Ich sah, daß die tiefhängenden Wolken an manchen Stellen aufgerissen und die Fetzen vom Wind fortgetragen worden waren, aber darüber dehnte sich eine weitere, dickere Wolkenschicht.
     
    Ich setzte mich an den Küchentisch, stellte meine Tasse ab und betrachtete das Zimmer, dem Zimts Hände eine so schöne Ordnung aufgeprägt hatten. Es sah aus wie ein großes dreidimensionales Stilleben, das nur vom leisen Ticken der Uhr gestört wurde. Die Zeiger der Uhr standen auf zwanzig nach zehn. Ich sah den Stuhl an, auf dem Zimt zuvor gesessen hatte, und fragte mich wieder, ob es richtig gewesen war, ihm nichts von Ushikawas gestrigem Besuch zu erzählen. Konnte es nicht das gegenseitige Vertrauen, das mittlerweile zwischen Zimt und mir oder Muskat und mir entstanden sein mochte, beeinträchtigen? Ich zog es jedoch vor, erst einmal abzuwarten und zu beobachten, wie sich die Dinge entwickeln würden. Was störte Noboru Wataya eigentlich so sehr an dem, was ich hier tat? Auf welchen seiner Schwänze trat ich ihm damit? Und was für Gegenmaßnahmen würde er ergreifen? Wenn es mir gelang, die Antworten auf diese Fragen zu finden, käme ich vielleicht seinem Geheimnis ein Stückchen näher. Und damit würde ich vielleicht auch Kumikos Aufenthaltsort ein Stückchen näher kommen.
    Als der kleine Zeiger der Uhr (der Uhr, die Zimt an ihren richtigen Platz gerückt hatte, einen Zentimeter nach rechts) die Elf erreicht hatte, ging ich hinaus in den Garten, wo der Brunnen auf mich wartete.
     
    »Zimt war noch klein, als ich ihm die Geschichte vom U-Boot und dem Zoo erzählte - ihm erzählte, was ich August 1945 vom Deck des Transportschiffs aus gesehen hatte, und wie die japanischen Soldaten die Tiere im Zoo meines Vaters erschossen hatten, während ein amerikanisches U-Boot mit seiner Kanone auf uns zielte und sich darauf vorbereitete, uns zu versenken. Ich hatte diese Geschichte lange für mich behalten und sie niemandem erzählt. Ich war schweigend durch das düstere Labyrinth geirrt, das sich zwischen Wahn und Wirklichkeit erstreckte. Als jedoch Zimt geboren wurde, kam mir der Gedanke, daß er der einzige war, dem ich meine Geschichte erzählen konnte. Und so fing ich an, sie ihm, selbst als er noch gar nichts verstehen konnte, immer und immer wieder zu erzählen, flüsternd fast, ihm alles zu erzählen, woran ich mich erinnern konnte, und während ich sprach, erstanden all die Szenen in leuchtenden

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