Mister Aufziehvogel
aus. Vielleicht hielt er sie auf eine besondere Art. Oder vielleicht lag es auch an etwas Wesentlicherem. Als er mich sah, leuchtete sein ganzes Gesicht auf. Es war ein wundervolles Lächeln, als sei er nach einer langen Wanderung durch tiefen Wald gerade auf eine besonnte Lichtung getreten. »Guten Morgen«, sagte ich zu ihm. »Guten Morgen«, sagte er zu mir zwar nicht, bewegte aber entsprechend die Lippen. Jetzt holte er die Lebensmittel aus den Tüten und räumte sie in den Kühlschrank, wie ein intelligentes Kind, das sich neu erworbenes Wissen systematisch einprägt. Die anderen Vorräte räumte er in die Schränke. Dann leistete er mir bei einer Tasse Kaffee Gesellschaft. Wir saßen uns am Küchentisch gegenüber - genau so, wie Kumiko und ich es vor langer Zeit jeden Morgen getan hatten.
»Schließlich lief es darauf hinaus, daß Zimt keinen einzigen Tag in einer Schule verbrachte«, sagte Muskat. »Normale Schulen wollten ein Kind, das nicht redete, nicht aufnehmen, und ich hatte das Gefühl, es wäre falsch, ihn auf eine reine Behindertenschule zu schicken. Auch wenn ich nicht wußte, warum er nicht sprechen konnte, wußte ich doch, daß es einen anderen Grund hatte als bei anderen Kindern. Und außerdem zeigte er nie den geringsten Wunsch, zur Schule zu gehen. Am liebsten schien er allein zu Haus zu bleiben, zu lesen oder Musik zu hören, oder mit dem Hund, den wir damals hatten, im Garten zu spielen. Manchmal ging er auch spazieren, aber ohne große Begeisterung, denn er war nicht gern unter Kindern seines Alters.«
Muskat lernte Zeichensprache und unterhielt sich auf diese Weise mit Zimt. Wenn die Zeichensprache nicht ausreichte, unterhielten sie sich schriftlich. Eines Tages aber merkte sie, daß sie und ihr Sohn sich ausgezeichnet verständigen konnten, auch ohne sich solcher Hilfsmittel zu bedienen. Die leiseste Geste oder Veränderung der Miene genügte, und sie wußte genau, war er dachte oder wollte. Von da an bereitete ihr Zimts Stummheit keine allzu großen Sorgen mehr. Mit Sicherheit stellte sie kein Hindernis für den geistigen Austausch zwischen Mutter und Sohn dar. Sie fand den Mangel an sprachlicher Kommunikation natürlich von Zeit zu Zeit ein wenig unpraktisch, aber es ging nie über ein Unbehagen hinaus, und in gewissem Sinne bewirkte gerade dieses Unbehagen eine Läuterung und Verfeinerung ihrer Kommunikation.
Wenn sie etwas Zeit erübrigen konnte, unterrichtete Muskat Zimt in Lesen, Schreiben und Rechnen. Darüber hinaus brauchte sie ihm nicht viel beizubringen. Er liebte Bücher, und mit ihrer Hilfe brachte er sich selbst alles bei, was er wissen mußte. Muskat war weniger seine Lehrerin als diejenige, die für ihn die Bücher aussuchte. Er liebte die Musik und wollte Klavier spielen lernen, aber nachdem er sich unter Anleitung eines professionellen Klavierlehrers in wenigen Monaten die Grundbegriffe der Fingertechnik angeeignet hatte, machte er allein, nur mit Lehrbüchern und Tonbandaufnahmen, weiter und war schon bald für sein Alter technisch sehr weit fortgeschritten. Am liebsten spielte er Bach und Mozart, und wenn man von Poulenc und Bartok absah, zeigte er wenig Neigung, über die Romantiker hinauszugehen. Während seiner ersten sechs Studienjahre beschränkten sich seine Interessen auf Lesen und Musik, aber als er das Gymnasiastenalter erreichte, wandte er sich den Fremdsprachen zu und lernte erst Englisch und dann Französisch. Beide Sprachen brachte er sich in nur sechs Monaten so weit bei, daß er einfache Bücher lesen konnte. Natürlich hatte er nie die Absicht, eine der beiden Sprachen zu sprechen; ihm ging es nur darum, Bücher lesen zu können. Eine andere Lieblingsbeschäftigung von ihm war, an komplizierten Apparaturen herumzubasteln. Er kaufte sich das nötige Werkzeug und Material und baute Radios und Röhrenverstärker zusammen, und er vergnügte sich damit, Uhren auseinanderzunehmen und zu reparieren.
Jeder in seiner Umgebung - das heißt, seine Mutter, sein Vater und seine Großmutter (Muskats Mutter) - gewöhnte sich rasch an die Tatsache, daß er nicht sprach, und empfand es bald nicht mehr als unnatürlich oder anomal. Nach ein paar Jahren hörte Muskat auf, ihren Sohn zum Psychiater zu bringen. Die wöchentlichen Sitzungen änderten ohnehin nichts an seinen »Symptomen«, und wie der Arzt gleich zu Beginn erkannt hatte, fehlte ihm außer der Fähigkeit zu sprechen überhaupt nichts. Im Gegenteil, er war ein fast vollkommenes Kind. Soweit Muskat sich
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