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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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erinnern konnte, hatte sie ihn nie zwingen müssen, irgend etwas zu tun, noch ihn schelten müssen, weil er etwas getan hätte, was er nicht tun durfte. Er entschied selbst, was er zu tun hatte, und tat es dann, tadellos, auf seine Weise. Er war so verschieden von anderen, gewöhnlichen Kindern, daß auch nur der Versuch, ihn mit ihnen zu vergleichen, absurd angemutet hätte. Er war zwölf, als seine Großmutter starb (ein Ereignis, über das er tagelang, lautlos, weinte), und von da an übernahm er es zu kochen, die Wäsche zu waschen und zu putzen, während seine Mutter arbeitete. Muskat wollte nach dem Tod ihrer Mutter eine Haushälterin einstellen, aber Zimt war strikt dagegen. Es durfte ihm keine fremde Person ins Haus kommen und die gewohnte Ordnung stören. Und so erledigte von nun an Zimt den Haushalt, und zwar mit einem hohen Grad an Präzision und Disziplin.
     
    Zimt sprach zu mir mit seinen Händen. Er hatte die schlanken, wohlgeformten Finger seiner Mutter geerbt; lang, aber nicht zu lang. Er hielt sie nah an sein Gesicht und bewegte sie ohne das leiseste Zögern, und sie übermittelten mir wie eigenständige, vernunftbegabte Lebewesen seine Botschaften. »Heute nachmittag um zwei kommt eine Klientin. Das ist für heute alles. Bis dahin sind Sie frei. Ich erledige jetzt, was ich noch zu tun habe, und in einer Stunde fahre ich los, hole die Dame ab und bringe sie her. Laut Wetterbericht wird es den ganzen Tag bedeckt sein. Sie können auch schon vor Sonnenuntergang einige Zeit im Brunnen verbringen, ohne Ihren Augen zu schaden.« Wie Muskat gesagt hatte, bereitete es mir keinerlei Schwierigkeiten, die Worte zu verstehen, die mir seine Finger übermittelten. Obwohl ich die Zeichensprache nicht beherrschte, fiel es mir leicht, seinen komplizierten, fließenden Bewegungen zu folgen. Vielleicht lag es an Zimts Fähigkeit, das Gemeinte vollkommen natürlich zum Ausdruck zu bringen - so wie auch ein in einer fremden Sprache aufgeführtes Theaterstück den Zuschauer zu bewegen vermag. Oder vielleicht meinte ich auch nur, ich verfolgte seine Fingerbewegungen, tat es aber in Wirklichkeit gar nicht. Möglicherweise waren die tanzenden Finger nichts als eine dekorative Fassade, und ich betrachtete, halb ohne es zu merken, irgendeinen anderen Aspekt des sich dahinter verbergenden Gebäudes. Immer, wenn wir uns am Frühstückstisch gegenübersaßen und miteinander plauderten, bemühte ich mich, die Grenze zwischen der Fassade und dem Hintergrund auszumachen, aber es wollte mir nie so recht gelingen, als ob sich die Demarkationslinie, wie immer sie auch beschaffen sein mochte, fortwährend verschöbe und veränderte. Nach unseren kurzen Unterhaltungen - oder Gedanken-Übertragungen - zog Zimt immer sein Jackett aus, hängte es auf einen Bügel, steckte sich die Krawatte vorn ins Hemd und machte sich ans Putzen oder Kochen. Während er arbeitete, ließ er auf einer Kompakt-Stereoanlage Musik laufen. Eine Woche lang hörte er sich etwa ausschließlich geistliche Musik von Rossini an, eine andere Woche Vivaldis Konzerte für Blasinstrumente, und spielte dieselben Stücke so oft hintereinander ab, daß ich sie am Ende auswendig kannte.
    Zimt arbeitete mit einer bewundernswerten Geschicklichkeit und Sparsamkeit der Bewegungen. Anfangs hatte ich ihm regelmäßig meine Hilfe angeboten, aber er hatte dazu nur gelächelt und den Kopf geschüttelt. Und als ich eine Zeitlang mit angesehen hatte, wie er die Hausarbeit erledigte, erkannte ich, daß alles weit reibungsloser vonstatten gehen würde, wenn ich mich völlig heraushielt. Von da an achtete ich nur darauf, daß ich ihm nicht im Weg stand. Während er seine vormittäglichen Hausarbeiten erledigte, saß ich zumeist auf dem Sofa im »Anproberaum« und las ein Buch.
    Die Zentrale war kein großes Haus, und sie enthielt nur das absolut notwendige Mindestmaß an Einrichtungsgegenständen. Da niemand dort wohnte, wurde es dort auch nie besonders schmutzig oder unordentlich. Dennoch saugte Zimt jeden Tag bis in die kleinste Ecke, staubte Möbel und Regale ab, putzte die Fenster, wachste den Tisch, wischte die Lampen ab und stellte jeden Gegenstand wieder an seinen Platz. Er räumte die Teller in den Geschirrschrank und ordnete die Kochtöpfe nach der Größe, faltete Tischdecken und Handtücher peinlich Kante auf Kante, drehte die Henkel der Kaffeetassen alle in dieselbe Richtung, korrigierte die Position der Seife auf dem Waschbecken und wechselte die Handtücher, selbst wenn sie

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