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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Arbeitstisch, auf dem sich eine Schere, Stoffreste, eine mit Nadeln und Garnrollen gefüllte Holzschachtel, Bleistifte, ein Skizzenblock (der sogar ein paar richtige Zeichnungen enthielt) und mehrere professionelle Utensilien befanden, deren Name und Verwendungszweck ich nicht kannte. An der Wand hing ein hoher Ankleidespiegel, und eine Ecke des Zimmers war durch einen Wandschirm abgetrennt, hinter dem man sich umziehen konnte. Die Klientinnen, die unsere Zentrale aufsuchten, wurden immer in dieses Zimmer geführt.
    Warum Zimt und seine Mutter es für nötig gehalten hatten, in diesem Haus eine exakte Replik des ursprünglichen »Anproberaums« einzurichten, war mir schleierhaft. Hier war eine solche Tarnung überhaupt nicht notwendig. Vielleicht hatten sie (und ihre Klientinnen) sich so sehr an das Aussehen des »Anproberaums« in Akasaka gewöhnt, daß sie sich kein anderes Interieur mehr vorstellen konnten. Natürlich hätten sie genausogut zurückfragen können: »Was ist denn gegen einen Anproberaum einzuwenden?« Und was immer sein tieferer Sinn sein mochte, mir gefiel er. Er war der »Anproberaum«, nicht einfach irgendein Zimmer, und umgeben von diesen Modedesignerutensilien fühlte ich mich seltsam geborgen. Es war eine unwirkliche Umgebung, aber keine unnatürliche. Muskat ließ mich auf dem Ledersofa Platz nehmen und setzte sich dann neben mich.
    »Also. Wie fühlen Sie sich?« fragte sie. »Nicht schlecht«, antwortete ich.
    Muskat trug ein leuchtend grünes Kostüm. Der Rock war kurz und die Jacke bis zum Hals mit großen, sechseckigen Knöpfen besetzt, wie eine dieser alten Nehru-Jacken. Die Schultern waren mit baguettebrötchenförmigen Polstern unterlegt. Dieser Look erinnerte mich an einen Science-fiction-Film, den ich vor vielen Jahren gesehen hatte. Er hatte in der nahen Zukunft gespielt, und alle Frauen hatten Kostüme wie dieses getragen und in einer futuristischen Stadt gewohnt. An den Ohren trug Muskat große Plastikdinger von genau derselben Farbe wie das Kostüm. Es war ein völlig ungewöhnliches, tiefes Grün, das aus mehreren Farben gemischt zu sein schien, deswegen nahm ich an, daß die Ohrringe eine Spezialanfertigung waren, eigens für die Kombination mit dem Kostüm in Auftrag gegeben. Oder vielleicht verhielt es sich auch genau umgekehrt: Das Kostüm war eigens für die Ohrringe angefertigt worden - wie wenn man eine Wandnische genau in den Maßen eines Kühlschranks mauert. Vielleicht nicht die schlechteste Weise, die Dinge zu betrachten, dachte ich. Bei ihrer Ankunft hatte Muskat trotz des Regens eine Sonnenbrille aufgehabt, und die Gläser waren fast mit Sicherheit grün gewesen. Auch ihre Strümpfe waren grün. Heute war offensichtlich Grüntag. Mit ihren gewohnten fließenden Bewegungen zog Muskat eine Zigarette aus der Handtasche, steckte sie sich in den Mund und zündete sie, ohne die Lippen mehr als unbedingt erforderlich zu schürzen, mit ihrem Feuerzeug an. Wenigstens das war nicht grün: es war das teuer aussehende, schlanke goldene Feuerzeug, das sie immer benutzte. Es harmonierte freilich ausgezeichnet mit dem Grün. Dann schlug Muskat ihre grünbestrumpften Beine übereinander. Nach einem aufmerksam prüfenden Blick auf ihre Knie zupfte sie ihren Rock zurecht. Dann sah sie mir, als sei es eine Fortsetzung ihrer Knie, ins Gesicht. »Nicht schlecht«, wiederholte ich. »Wie immer.«
    Muskat nickte. »Sie sind nicht müde? Haben nicht das Gefühl, daß Sie ein wenig Erholung bräuchten?«
    »Nein, eigentlich nicht. Ich glaube, ich habe mich an die Arbeit gewöhnt. Sie geht mir jetzt ein ganzes Stück leichter von der Hand als zu Anfang.« Muskat erwiderte darauf nichts. Der Rauch ihrer Zigarette stieg, wie das magische Seil eines indischen Fakirs, schnurgerade zur Decke auf und wurde dort vom Gebläse der Klimaanlage aufgesogen. Soweit ich wußte, war dieser Ventilator der leiseste und leistungsfähigste der Welt. »Wie geht es Ihnen? « fragte ich. »Mir?«
    »Sind Sie müde?«
    Muskat sah mich an. »Sehe ich müde aus?«
    Tatsächlich hatte sie auf mich von dem Moment an, als unsere Blicke sich begegnet waren, müde gewirkt. Als ich ihr das sagte, stieß sie einen kurzen Seufzer aus. »In einer Zeitschrift, die heute herausgekommen ist, war wieder ein Artikel über dieses Haus - aus der Serie ›Das Geheimnis des Selbstmörderhauses‹. Klingt wie der Titel eines Horrorfilms.«
    »Das ist der zweite, nicht?« sagte ich.
    »Ja«, sagte Muskat. »Und vor nicht allzu langer

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