Mister Aufziehvogel
weichen Zehenballen des Katers, an seine kalten, dreieckigen Ohren, seine rosige Zunge. In meiner Vorstellung hatte sich Oktopus zusammengekringelt und schlief ruhig und fest. Ich spürte seine Wärme unter meiner Hand. Ich konnte seinen regelmäßigen Atem hören. Ich war viel nervöser als gewöhnlich, aber dennoch versank ich schon bald in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Ich erwachte mitten in der Nacht. Ich meinte, irgendwo weit weg Schlittenglöckchen gehört zu haben, wie im Hintergrund eines Weihnachtsliedes. Schlittenglöckchen?
Ich setzte mich auf dem Sofa auf und tastete auf dem Couchtisch nach meiner Uhr. Die Leuchtzeiger standen auf halb zwei. Ich mußte fester geschlafen haben, als ich erwartet hatte. Reglos saß ich da und horchte angestrengt, aber das einzige Geräusch, das ich hörte, war das leise, trockene Pochen meines Herzens. Vielleicht hatte ich mir die Schlittenglöckchen nur eingebildet. Vielleicht hatte ich doch geträumt. Trotzdem beschloß ich, einen Rundgang durch das Haus zu machen. Ich schlüpfte in meine Pantoffeln und schlurfte in die Küche. Als ich das Zimmer verließ, wurde das Geräusch deutlicher. Es klang wirklich wie Glöckchengeläut, und es schien aus Zimts Arbeitszimmer zu kommen. Eine Weile blieb ich vor der Tür stehen und lauschte, dann klopfte ich an. Vielleicht war Zimt zurückgekommen, während ich schlief. Aber es kam keine Antwort. Ich öffnete die Tür einen Spaltbreit und sah hinein.
Etwa in Hüfthöhe schwebte ein rechteckiges weißliches Leuchten in der Dunkelheit. Es war das Leuchten des Monitors, und das Glöckchengeläut war das wiederholte Piepsen des Rechners (ein neues Piepsen, das ich noch nie gehört hatte). Der Computer rief nach mir. Wie magnetisch angezogen setzte ich mich vor den leuchtenden Bildschirm und las die Meldung:
Sie haben nun Zugang zum Ordner »Die Aufziehvogel-Chronik«. Wählen Sie ein Dokument (1-16). Irgend jemand hatte den Computer eingeschaltet und einen Ordner mit dem Namen »Die Aufziehvogel-Chronik« aufgerufen. Außer mir durfte eigentlich niemand in der Zentrale sein. Konnte jemand den Rechner von außerhalb eingeschaltet haben? Falls ja, konnte es nur Zimt gewesen sein. » Die Aufziehvogel-Chronik « ?
Der Computer fuhr fort, das helle, muntere Geräusch, wie von Schlittenglöckchen, von sich zu geben, als sei es der Weihnachtsmorgen. Er schien mich zu drängen, eine Wahl zu treffen. Nach einigem Zögern wählte ich ohne einen besonderen Grund die Nummer 8. Augenblicklich verstummte das Geläut, und auf dem Bildschirm öffnete sich ein Dokument wie ein Makimono, das vor meinen Augen entrollt wurde.
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D IE AUFZIEHVOGEL-CHRONIK NR.8
(ODER: EIN ZWEITES STÜMPERHAFTES MASSAKER)
Der Tierarzt wachte vor sechs auf. Nachdem er sich das Gesicht mit kaltem Wasser gewaschen hatte, bereitete er sich sein Frühstück. Im Sommer ging die Sonne zeitig auf, und die meisten Tiere des Zoos waren schon wach. Durch das offene Fenster drangen ihre Stimmen und, mit der Brise, ihre Gerüche ins Zimmer, womit der Tierarzt wußte, wie das Wetter war, ohne hinaussehen zu müssen. Dies gehörte zu seinen allmorgendlichen Gepflogenheiten; zuerst lauschte er und atmete die Morgenluft ein. Auf diese Weise rüstete er sich für den neuen Tag. Der heutige Tag hätte jedoch anders sein müssen als der gestrige. Er mußte anders sein. So viele Stimmen und Gerüche waren seither verschwunden! Die Tiger, die Leoparden, die Wölfe, die Bären: alle waren am Nachmittag zuvor von Soldaten liquidiert worden. Jetzt, nach dem Schlaf einer Nacht, schienen diese Ereignisse Teil eines lange zurückliegenden trägen Alptraums zu sein. Aber der Tierarzt wußte, daß sie wirklich stattgefunden hatten. Seine Ohren schmerzten noch dumpf vom Donnern der Gewehre, die die Soldaten abgefeuert hatten. Es konnte kein Traum gewesen sein. Es war jetzt August, man schrieb das Jahr 1945, er befand sich in der Stadt Hsin-ching, und die Sowjettruppen, die erst vor wenigen Tagen in das Land eingefallen waren, rückten unaufhaltsam von Stunde zu Stunde näher. Das war die Wirklichkeit - so wirklich wie das Waschbecken und die Zahnbürste, die er vor sich sah.
Das Trompeten der Elefanten ließ ihn innerlich aufatmen. Ach ja - die Elefanten hatten überlebt. Zum Glück hatte der junge Leutnant, dem der Zug unterstellt gewesen war, so viel menschliches Empfinden gehabt, die Elefanten von der Liste zu streichen, dachte der Tierarzt, während er sich das Gesicht wusch. Seitdem er
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