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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Lage ein?«
    »Er sagt nichts. Stumm wie eine Auster auf dem Grund des Meeres. Er hat sich in sich selbst vergraben, hat die Tür verriegelt und denkt ernsthaft nach.« Muskat sah mir unverwandt in die Augen. Endlich schien sie sich an die Zigarette zu erinnern, die sie in der Hand hielt, und zündete sie an. Dann sagte sie: »Ich denke noch immer häufig daran - an meinen Mann, und wie er umgebracht wurde. Warum mußten sie ihn ermorden? Warum mußten sie das ganze Hotelzimmer mit Blut beschmieren und ihm die Organe herausreißen und sie mitnehmen? Ich kann mir einfach keinen Grund vorstellen, aus dem jemand so etwas tut. Mein Mann war gar nicht der Typ umgebracht zu werden, und gar auf so ungewöhnliche Weise.
    Aber der Tod meines Mannes ist nicht das einzige. All diese unerklärlichen Dinge und Ereignisse in meinem Leben - diese Leidenschaft für das Modedesign, die in mir aufwallte und dann mit einemmal verschwand; Zimts plötzliches Verstummen; die Art und Weise, wie ich in diesen seltsamen Beruf, den wir hier ausüben, hineingerutscht bin - es wirkt auf mich so, als sei all das von Anfang scharfsinnig programmiert gewesen, mit dem Ziel, mich genau dahin zu manövrieren, wo ich jetzt bin. Ich werde diesen Gedanken einfach nicht los. Ich habe das Gefühl, als würde jeder meiner Schritte von einem unglaublich langen Arm gesteuert, der von irgendwo weit weg bis hierher reicht, und als sei mein ganzes Leben nicht mehr gewesen als ein geeigneter Kanal für all diese Dinge und Ereignisse.« Aus dem Nebenzimmer drang das leise Geräusch des Staubsaugers herüber. Zimt erledigte auf seine konzentrierte, systematische Weise die Hausarbeit. »Haben Sie dieses Gefühl jemals gehabt?« fragte mich Muskat. »Ich habe nicht das Gefühl, in was auch immer ›hineinmanövriert worden‹ zu sein«, sagte ich. »Ich bin jetzt hier, weil es für mich notwendig war, hier zu sein.«
    »Damit sie die Zauberflöte blasen und Kumiko wiederfinden können?«
    »Genau.«
    »Sie haben etwas, wonach Sie suchen«, sagte sie und schlug ihre grünbestrumpften Beine langsam andersherum übereinander. »Und alles hat seinen Preis.« Ich blieb stumm.
    Schließlich teilte mir Muskat ihre Entscheidung mit. »Wir haben beschlossen, eine Zeitlang keine Klientinnen mehr hierherzubringen. Es war Zimts Beschluß. Durch die verschiedenen Artikel und jetzt den Auftritt Ihres Schwagers hat das Signal von Gelb auf Rot gewechselt. Wir haben gestern alle weiteren Termine abgesagt, angefangen mit dem heutigen.«
    »Wie lang wird ›eine Zeitlang‹ sein?«
    »So lang, wie Zimt brauchen wird, um die Löcher im System zu stopfen, und bis wir sicher sein können, daß die Krise vollkommen überwunden ist. Tut mir leid, aber wir wollen keine Risiken eingehen - keinerlei Risiken. Zimt wird weiterhin jeden Tag herkommen, aber es wird keine Klientinnen mehr geben.«
    Als Zimt und Muskat aufbrachen, hatte der Morgenregen aufgehört. Ein halbes Dutzend Spatzen badeten in einer Pfütze, die sich auf der Auffahrt gebildet hatte. Als Zimts Mercedes verschwunden war und das automatische Tor sich geschlossen hatte, setzte ich mich ans Fenster und starrte in den bewölkten Winterhimmel, vor dem sich die Äste der Bäume abzeichneten. Muskats Worte fielen mir wieder ein: »ein unglaublich langer Arm, der von irgendwo weit weg bis hierher reicht«. Ich stellte mir diesen Arm vor, wie er sich aus den dunklen, tiefhängenden Wolken herunterstreckte - wie eine Illustration in einem gruseligen Bilderbuch.

25
    D REIECKIGE OHREN
    SCHLITTENGLÖCKCHEN
     
    Den ganzen verbleibenden Tag las ich weiter über Mandschukuo. Es eilte nicht, daß ich nach Hause zurückkehrte. Da ich angenommen hatte, es werde spät werden, hatte ich Oktopus am Morgen eine Zweitagesration Trockenfutter hingestellt. Es schmeckte ihm vielleicht nicht sonderlich, aber zumindest würde er nicht verhungern. Dadurch wurde die Vorstellung, mich nach Haus zu schleppen, noch weniger verlockend. Ich beschloß, mich lieber hinzulegen und ein Nickerchen zu machen. Ich holte eine Decke und ein Kissen aus dem Schrank, machte mir im Anproberaum das Sofa zurecht und schaltete das Licht aus. Dann legte ich mich hin, schloß die Augen und begann, an Oktopus zu denken. Ich wollte einschlafen, während ich an den Kater dachte. Er immerhin war zu mir zurückgekehrt. Er hatte es geschafft, von irgendwo weit weg zu mir zurückzukehren. Das mußte ein gutes Zeichen sein. Während ich mit geschlossenen Augen dalag, dachte ich an die

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