Mister Aufziehvogel
wirklicher Kälte zu erhalten, fuhren die Offiziere in den hohen Norden, auf die Insel Sachalin - selbst lange Zeit Gegenstand eines Konflikts mit dem Zarenreich und dann mit der Sowjetunion -, und testeten die Effektivität wärmeisolierender Stiefel und Mäntel und Unterwäsche an einer echten Kampfeinheit. Sie führten Versuche mit der damals in der Sowjetunion verwendeten Winterausrüstung und mit den während des Rußlandfeldzugs von der napoleonischen Armee benutzten Uniformen durch und gelangten zu dem Schluß, daß die japanische Armee mit ihrer gegenwärtigen Ausrüstung keinen Winter in Sibirien würde überstehen können. Zwei Drittel der an der Front kämpfenden Fußtruppe würden durch Erfrierungen außer Gefecht gesetzt werden, schätzten sie. Die damals von der Armee benutzte Überlebensausrüstung war für den etwas milderen nordchinesischen Winter konzipiert, und zudem war sie in völlig unzureichender Stückzahl vorrätig. Die Expertengruppe errechnete die Anzahl von Schafen, die erforderlich wäre, um die für die Ausstattung von zehn Divisionen notwendige warme Winterkleidung herzustellen (wobei der Witz die Runde machte, die Offiziere seien vor lauter Schafezählen nicht mehr zum Schlafen gekommen), und gaben in ihrem Abschlußbericht dazu die geschätzte Menge an technischen Einrichtungen an, die für die Verarbeitung der Wolle erforderlich wären. Allein mit den auf den japanischen Inseln gehaltenen Schafen würde sich im Falle wirtschaftlicher Sanktionen oder gar einer Blockade ein längerer Krieg gegen die Sowjetarmee in den nördlichen Territorien eindeutig nicht führen lassen; daher - so hieß es im Bericht - war es für Japan zwingend, sowohl für einen gesicherten Nachschub an Wolle (und Kaninchen- und anderen Fellen) aus der mandschurisch-mongolischen Region als auch für die Bereitstellung der notwendigen technischen Einrichtungen zu deren Verarbeitung zu sorgen. Der Mann, der 1932, unmittelbar nach Einsetzung der dortigen Marionettenregierung, zur Sondierung der Lage nach Mandschukuo entsandt wurde, war ein junger Technokrat, der gerade die Militärakademie mit Hauptfach Logistik abgeschlossen hatte; sein Name war Yoshitaka Wataya.
Yoshitaka Wataya! Das konnte nur Noborus Onkel gewesen sein. Es gab nicht gerade viele Watayas auf der Welt, und der Name Yoshitaka beseitigte den letzten Zweifel.
Sein Auftrag lautete, zu errechnen, wieviel Zeit es erfordern würde, in Mandschukuo einen solchen konstanten Nachschub an Wolle zu organisieren. Yoshitaka Wataya nahm sich dieses Problem der Kaltwetterkleidung als einen Modellfall für moderne Logistik vor und führte eine erschöpfende Analyse durch. Während seines Aufenthalts in Mukden ließ sich Yoshitaka Wataya bei Generalleutnant Kanji Ishiwara einführen und trank und diskutierte mit ihm die ganze Nacht.
Kanji Ishiwara. Ein weiterer Name, der mir vertraut war. Noboru Watayas Onkel hatte mit Kanji Ishiwara in Verbindung gestanden, dem Rädelsführer des sogenannten »mandschurischen Zwischenfalls«, des inszenierten chinesischen Angriffs auf japanische Truppen, der Japan ein Jahr zuvor den Vorwand dazu geliefert hatte, die Mandschurei in Mandschukuo zu verwandeln - und der sich im nachhinein als der erste Akt eines fünfzehnjährigen Krieges erweisen sollte. Ishiwara hatte den Kontinent kreuz und quer bereist und war nicht nur zu der Überzeugung gelangt, daß ein regulärer Krieg gegen die Sowjetunion unvermeidlich war, sondern auch, daß der Schlüssel zum Sieg in diesem Krieg in der Stärkung von Japans logistischer Position durch rasche Industrialisierung des neu gegründeten Kaiserreichs Mandschukuo und der Schaffung einer von Importen unabhängigen Wirtschaft lag. Er setzte Yoshitaka Wataya seine Ansicht beredt und leidenschaftlich auseinander. Er sprach sich auch nachdrücklich dafür aus, Mandschukuos Agrar- und Viehwirtschaft durch die Ansiedlung japanischer Bauern zu systematisieren und auf ein höheres Ertragsniveau zu bringen. Ishiwara war der Meinung, Japan dürfe Mandschukuo nicht in eine weitere japanische Kolonie, wie Korea und Taiwan, verwandeln, sondern sollte es statt dessen zu einer neuen, mustergültigen asiatischen Nation machen. Was seine Einschätzung der Tatsache anging, daß Mandschukuo letztlich als logistische Basis für den Krieg gegen die Sowjetunion - und sogar gegen die Vereinigten Staaten und England - dienen würde, bewies Ishiwara allerdings einen bewundernswerten Realismus. Er war davon überzeugt,
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