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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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mir arbeiten? Für die Perückenfirma. Die zahlen nicht besonders, aber die Arbeit ist einfach, und man kann sich die Stunden so einteilen, wie man will. Was meinen Sie? Denken Sie nicht zu lange drüber nach, tun Sie’s einfach. Als ne Art Luftveränderung. Das könnte Ihnen helfen, sich über ne Menge Dinge klarzuwerden.«
    Da war was dran. »Da ist was dran«, sagte ich.
    »Toll!« sagte sie. »Wenn ich das nächstemal hingehe, komm ich vorbei und hol Sie ab. Wo sagten Sie noch mal, wohnen Sie?«
    »Hmm, das ist schwer zu sagen. Oder vielleicht auch nicht. Du läufst einfach immer weiter die Gasse lang, mit allen Zickzacks, die sie macht. Auf der linken Seite siehst du dann ein Haus mit einem roten Honda Civic in der Auffahrt. Der hat so einen Sticker an der Stoßstange: ›Mögen alle Völker in Frieden leben.‹ Unsers ist das nächste Haus, aber es hat kein Tor zur Gasse. Da ist nur eine Hohlblockmauer, und über die mußt du klettern. Sie reicht mir ungefähr bis zum Kinn.«
    »Keine Sorge. Über eine Mauer von der Höhe komme ich schon drüber. Kein Problem.«
    »Tut dir dein Bein nicht mehr weh?«
    Mit einem leichten Seufzer stieß sie einen Schwall Rauch aus und sagte: »Keine Sorge. Es ist nichts. Ich hinke, wenn meine Eltern da sind, weil ich nicht in die Schule zurück will. Es ist nur Theater. Ich hab’s mir nur inzwischen irgendwie angewöhnt. Ich tu’s selbst dann, wenn keiner zuguckt, wenn ich ganz allein in meinem Zimmer bin. Ich bin eben Perfektionistin. Wie heißt es doch so schön - ›Betrüg dich selbst, um andere zu betrügen‹? Aber egal, Mister Aufziehvogel, sagen Sie, haben Sie Mumm?«
    »Eigentlich nicht, nein.«
    »Nie gehabt?«
    »Nein, in der Richtung ist bei mir nie viel los gewesen. Wird sich wahrscheinlich auch nie ändern.«
    »Wie steht’s mit Neugier?«
    »Neugier ist eine andere Sache. Dazu neige ich schon etwas mehr.«
    »Na, meinen Sie nicht, daß Mumm und Neugier irgendwie verwandt sind?« sagte May Kasahara. »Wo Mumm ist, da ist auch Neugier, und wo Neugier ist, da ist auch Mumm. Nein?«
    »Hmm, eine gewisse Verwandtschaft könnte schon bestehen«, sagte ich. »Vielleicht hast du recht. Vielleicht überlappen sich die zwei in bestimmten Fällen schon.«
    »Zum Beispiel in Fällen, wo man heimlich in jemandes Garten einsteigt.«
    »Ja, etwa«, sagte ich und ließ ein Zitronenbonbon auf meiner Zunge kullern. »Wenn man heimlich in jemandes Garten einsteigt, scheinen tatsächlich Mumm und Neugier im Spiel zu sein. Neugier kann manchmal den Mumm aus seinem Versteck hervorlocken, ihm vielleicht sogar einen richtigen Schubs geben. Aber Neugier verfliegt in der Regel bald. Mumm braucht Durchhaltevermögen. Neugier ist wie eine lustige Freundin, auf die man sich nicht wirklich verlassen kann.
    Erst bringt sie dich in Fahrt, und dann läßt sie dich sitzen, und du kannst zusehen, wie du allein klarkommst - und wieviel Mumm du aufbringst.«
    Sie dachte eine Zeitlang darüber nach. »Stimmt wohl«, sagte sie. »So kann man die Sache jedenfalls auch sehen.« Sie stand auf und klopfte sich den Schmutz vom Hosenboden ihrer Shorts. Dann sah sie zu mir herunter. »Sagen Sie, Mister Aufziehvogel, würden Sie gern den Brunnen sehen?«
    »Den Brunnen?« fragte ich. Den Brunnen?
    »Es gibt hier einen ausgetrockneten Brunnen. Mir gefällt er. Irgendwie. Möchten Sie ihn sehen?«
     
    Wir gingen quer durch den Garten und bogen um die Ecke des Hauses. Es war ein runder Brunnen von vielleicht einem Meter dreißig Durchmesser. Seine Öffnung war mit passend zugesägten starken Planken abgedeckt, auf die man zwei Betonblöcke gelegt hatte, damit sie nicht verrutschten. Die Brunneneinfassung war vielleicht einen knappen Meter hoch, und dicht daneben stand, wie ein Wachposten, ein einzelner alter Baum. Es war ein Obstbaum, aber was für einer, hätte ich nicht sagen können.
    Wie fast alles, was zu diesem Haus gehörte, sah der Brunnen so aus, als sei er schon vor langer Zeit aufgegeben worden. Er strahlte etwas aus, als müßte er »erdrückende Starre« heißen. Vielleicht werden leblose Dinge, wenn die Menschen die Augen von ihnen abwenden, noch lebloser.
    Bei näherer Untersuchung zeigte sich, daß der Brunnen tatsächlich weit älter war als alles, was ihn umgab. Er war in einer anderen Epoche angelegt worden, lange bevor das Haus entstanden war. Selbst die Holzabdeckung war eine echte Antiquität. Die Einfassung hatte man - höchstwahrscheinlich zur Verstärkung einer viel älteren

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