Mister Aufziehvogel
einfachste Lösung des Problems. Kannst du dir so etwas vorstellen? Ich weiß nicht warum, aber sie hatten absolut keine Ahnung, wie sich so etwas auf ein kleines Kind auswirken kann.« Als Dreijährige kam sie zu ihrer Großmutter nach Niigata und blieb dort, bis sie sechs war. Für sich genommen war das Leben, das sie auf dem Land führte, alles andere als unglücklich oder mißraten. Ihre Großmutter war verrückt nach ihr, und Kumiko spielte viel lieber mit ihren - eher gleichaltrigen - Cousins als mit ihren eigenen Geschwistern. Als es Zeit wurde, sie einzuschulen, brachte man sie wieder nach Tokio zurück. Ihre Eltern hatten allmählich begonnen, sich wegen der langen Trennung von ihrer Tochter Gedanken zu machen und bestanden darauf, sie wieder zu sich zu nehmen, bevor es zu spät wäre. In gewissem Sinne war es allerdings schon zu spät. In den Wochen nach der Entscheidung, sie zu ihren Eltern zurückzuschicken, war Kumikos Großmutter zunehmend gereizt. Sie aß nichts mehr und machte nachts kaum noch ein Auge zu. In der einen Minute konnte sie die kleine Kumiko herzen und mit aller Kraft an sich drücken, und in der nächsten schlug sie sie mit einem Lineal auf den Arm - so fest, daß es Striemen gab. In der einen Minute erklärte sie, sie könne sie nicht fortlassen, sie wolle eher sterben, als sie zu verlieren, und in der nächsten sagte sie ihr, sie solle verschwinden, sie wolle sie nie wiedersehen. Dann hielt sie Kumiko in der denkbar schmutzigsten Ausdrucksweise vor, was für ein abscheuliches Weib ihre Mutter sei. Einmal versuchte sie sogar, sich mit einer Schere die Pulsadern zu öffnen. Kumiko verstand nicht, was um sie herum geschah. Die Situation war für sie einfach nicht zu begreifen. Sie reagierte, indem sie sich von der Außenwelt abschottete. Sie machte die Augen zu. Sie machte die Ohren zu. Sie verschloß ihr Herz. Sie stellte jegliches Denken und Hoffen ein. Die nächsten Monate waren eine weiße Fläche. Sie erinnerte sich später an nichts, was während dieser Zeit geschehen war. Als sie aus ihrer Betäubung aufwachte, fand sie sich in einem neuen Zuhause wieder. Es war das Zuhause, in dem sie die ganze Zeit schon hätte leben sollen. Dort waren ihre Eltern, ihr Bruder und ihre Schwester. Aber es war nicht ihr Zuhause. Es war lediglich eine neue Umgebung.
Darin wurde Kumiko zu einem schwierigen, verschlossenen Kind. Es gab niemanden, dem sie hätte vertrauen, auf den sie sich bedingungslos hätte verlassen können. Selbst in den Armen ihrer Eltern fühlte sie sich nie ganz wohl. Der Geruch der beiden war ihr fremd. Er beunruhigte sie. Manchmal war er ihr sogar regelrecht zuwider. Der einzige Mensch innerhalb der Familie, dem sie sich, mühsam, allmählich zu öffnen begann, war ihre Schwester. Ihre Eltern hofften kaum noch, je zu ihr durchzudringen; für ihren Bruder war sie kaum vorhanden. Ihre Schwester aber verstand, welche Verwirrung und Einsamkeit sich hinter ihren störrischen Launen verbarg. Sie stand Kumiko bei, wo sie nur konnte, schlief mit ihr im selben Zimmer, redete mit ihr, las ihr vor, begleitete sie zur Schule, half ihr bei den Hausaufgaben. Wenn Kumiko stundenlang in sich zusammengekauert in einer Ecke ihres Zimmers weinte, war ihre Schwester da und hielt sie in den Armen. Sie tat ihr möglichstes, um einen Zugang zu Kumikos Herz zu finden. Wäre sie nicht ein Jahr, nachdem Kumiko aus Niigata zurückgekehrt war, an Lebensmittelvergiftung gestorben, hätte sich die Situation ganz anders entwickelt. »Wenn meine Schwester nicht gestorben wäre«, sagte Kumiko, »hätte es zu Hause ganz anders werden können. Sie war nur ein kleines Mädchen, eine Sechstkläßlerin, aber sie war das Herz dieses Hauses. Wenn sie weitergelebt hätte, wären wir vielleicht alle normaler geworden, als wir jetzt sind. Zumindest wär ich nicht so ein hoffnungsloser Fall. Verstehst du, was ich meine? Ich habe mich danach so schuldig gefühlt. Warum war nicht ich anstelle meiner Schwester gestorben? Ich nützte niemandem. Ich konnte niemand glücklich machen. Warum hatte ich nicht die eine sein können? Meine Eltern und mein Bruder wußten ganz genau, was in mir vorging, aber sie unternahmen nie einen Versuch, mich zu trösten. Ganz im Gegenteil. Sie ließen keine Gelegenheit aus, über meine Schwester zu reden: wie hübsch sie gewesen war, wie intelligent, wie gern sie jeder gehabt hatte, was für ein rücksichtsvoller Mensch sie gewesen war, wie gut sie Klavier gespielt hatte. Und dann zwangen sie
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