Mister Aufziehvogel
Konstruktion - mit einer dicken Schicht Zement überstrichen. Der Wächter-Baum schien sich zu rühmen, viel länger als jeder andere Baum weit und breit an seinem Platz zu stehen.
Ich setzte einen Betonblock auf die Erde und entfernte einen der zwei hölzernen Halbmonde, die den Deckel bildeten. Die Hände auf den Brunnenrand gestützt, beugte ich mich vor und blickte hinein, aber ich konnte nicht bis auf den Grund sehen. Es war offensichtlich ein tiefer Brunnen, und seine untere Hälfte verschwand in der Dunkelheit. Ich schnüffelte. Es roch leicht moderig. »Da ist kein Wasser drin«, sagte May Kasahara.
Ein Brunnen ohne Wasser. Ein Vogel, der nicht fliegen kann. Eine Gasse ohne Ausgang. Und -
May hob einen Brocken Backstein vom Boden auf und warf ihn in den Brunnen. Einen Augenblick später ertönte ein leiser trockener Schlag. Sonst nichts. Das Geräusch war durch und durch trocken, ausgedörrt, als könnte man es zwischen den Händen zerbröseln. Ich richtete mich auf und sah May Kasahara an. »Ich frage mich, warum da kein Wasser drin ist. Ist er ausgetrocknet? Hat jemand ihn zugeschüttet?«
Sie zuckte die Achseln. »Wenn man einen Brunnen zuschüttet, füllt man ihn dann nicht bis zum Rand auf? Was hat’s für einen Wert, so ein trockenes Loch zu lassen? Jemand könnte reinfallen und sich was brechen. Meinen Sie nicht?«
»Ich glaub, du hast recht«, sagte ich. »Irgend etwas hat wahrscheinlich bewirkt, daß das Wasser versiegt ist.«
Plötzlich fiel mir wieder ein, was Herr Honda vor langer Zeit gesagt hatte: »Wenn du aufsteigen sollst, such dir den höchsten Turm aus und kletter bis auf die Spitze. Wenn du absteigen sollst, such dir den tiefsten Brunnen und geh hinunter auf den Grund.« Jetzt hatte ich also einen Brunnen, wenn ich mal einen brauchen sollte.
Ich beugte mich wieder über den Rand und sah, ohne irgend etwas Bestimmtes zu erwarten, in die Dunkelheit hinunter. Also, dachte ich, existiert an einem Ort wie diesem, an einem Tag wie diesem, eine so tiefe Dunkelheit. Ich räusperte mich und schluckte. Das Geräusch hallte in der Dunkelheit, als habe sich noch jemand geräuspert. Mein Speichel schmeckte nach Zitronenbonbon.
Ich deckte den Brunnen wieder ab und setzte den Betonklotz auf die Planke. Dann sah ich auf die Uhr. Fast halb zwölf. Zeit, Kumiko anzurufen. »Ich sollte jetzt wieder nach Haus«, sagte ich.
May Kasahara runzelte leicht die Stirn. »Nur zu, Mister Aufziehvogel«, sagte sie. »Fliegen Sie heim.«
Als wir den Garten durchquerten, starrte der steinerne Vogel noch immer den Himmel aus trockenen Augen zornig an. Der Himmel seinerseits war noch immer mit seiner lückenlosen grauen Wolkendecke verhängt, aber wenigstens hatte der Regen aufgehört. May Kasahara riß eine Handvoll Gras aus und warf sie steil nach oben. Ohne den leisesten Wind, der sie hätte forttragen können, fielen ihr die Halme vor die Füße.
»Wenn man an die vielen Stunden denkt, von jetzt, bis die Sonne untergeht«, sagte sie, ohne mich anzusehen.
»Stimmt«, sagte ich. »Eine Menge Stunden.«
6
V ON KUMIKO OKADAS UND
NOBORU WATAYAS GEBURT
Als Einzelkind kann ich mir nur schwer vorstellen, wie sich erwachsene Geschwister fühlen müssen, wenn sie im Laufe ihres späteren Lebens als selbständige Individuen miteinander in Kontakt kommen. Kumiko zum Beispiel bekam jedesmal, wenn das Thema Noboru Wataya angeschnitten wurde, ein merkwürdiges Gesicht, als habe sie sich versehentlich etwas nicht ganz Koscheres in den Mund gesteckt - aber was dieses Gesicht genau bedeutete, blieb mir zwangsläufig verschlossen. Ich persönlich brachte ihrem älteren Bruder nicht das leiseste positive Gefühl entgegen. Kumiko wußte das und fand es absolut nachvollziehbar; sie war selbst weit davon entfernt, diesen Mann zu mögen. Wären ihre verwandtschaftlichen Bande nicht gewesen, hätten sie vermutlich nie auch nur ein einziges Wort miteinander gewechselt. Aber sie waren nun einmal Geschwister, und das machte die Sache etwas komplizierter.
Nachdem ich meine Auseinandersetzung mit ihrem Vater gehabt und jeden Kontakt mit ihrer Familie abgebrochen hatte, ergab sich für Kumiko praktisch keinerlei Anlaß mehr, Noboru Wataya zu sehen. Es war eine sehr heftige Auseinandersetzung gewesen. Ich habe im Laufe meines Lebens nicht viele Auseinandersetzungen gehabt - ich bin einfach nicht der Typ dafür -, aber wenn ich einmal anfange, dann fechte ich die Sache bis zum Ende durch. Und so war mein Bruch mit Kumikos
Weitere Kostenlose Bücher