Mister Aufziehvogel
jemand vorbei und übermalte das Grau mit einem etwas anders strukturierten Grau - einem mit Gold oder Grün oder Rot durchschossenen Ton. Ich staunte, wie viele verschiedene Sorten von Grau es gab. Die Menschen waren doch merkwürdig konstruiert. Man brauchte nur zehn Minuten lang stillzusitzen, und schon konnte man diese unglaubliche Vielfalt von Grautönen sehen.
In meinem Buch von Graufarbmustern blätternd, begann ich wieder zu pfeifen, ohne einen Gedanken im Kopf. »He«, sagte jemand.
Ich klappte die Augen auf, lehnte mich zur Seite und reckte mich, um über die Spitzen des Unkrauts hinweg das Tor zu sehen. Es stand offen. Sperrangelweit offen. Jemand war mir hineingefolgt. Mein Herz begann zu hämmern. »He«, sagte die Stimme noch einmal. Eine weibliche Stimme. Eine Gestalt trat hinter der Statue hervor und kam auf mich zu. Es war das Mädchen, das sich im Garten gegenüber gesonnt hatte. Sie trug dasselbe hellblaue Adidas-T-Shirt und dieselben Shorts. Wieder hinkte sie leicht beim Gehen. Die einzige Veränderung seit damals bestand darin, daß sie ihre Sonnenbrille nicht aufhatte. »Was tun Sie hier?« fragte sie. »Ich such nach dem Kater«, sagte ich.
»Sind Sie sicher? Sieht mir nicht danach aus. Sie sitzen einfach nur mit geschlossenen Augen da und pfeifen. Dürft nicht ganz einfach sein, auf die Art irgendwas zu finden, meinen Sie nicht?« Ich spürte, daß ich rot wurde.
»Mir ist es ja egal«, fuhr sie fort, »aber jemand, der Sie nicht kennt, könnt Sie für’n Perversen halten oder so.« Sie hielt inne. »Sie sind doch kein Perverser, oder?«
»Wahrscheinlich nicht«, sagte ich.
Sie kam näher heran und nahm eine sorgfältige Musterung der ineinandergestellten Gartenstühle vor, suchte sich einen aus, der nicht allzu verschmutzt war, und untersuchte ihn noch einmal gründlich, bevor sie ihn auf den Boden stellte und sich darauf niederließ.
»Und pfeifen tun Sie wie der letzte Mensch«, sagte sie. »Ich kenn das Stück zwar nicht, aber es hatte überhaupt keine Melodie. Sie sind doch nicht schwul, oder?«
»Wahrscheinlich nicht«, sagte ich. »Warum?«
»Jemand hat mir mal gesagt, Schwule könnten überhaupt nicht pfeifen. Stimmt das?«
»Wer weiß? Wahrscheinlich ist das Unsinn.«
»Egal, von mir aus dürfen Sie sogar schwul oder pervers oder sonstwas sein. Übrigens, wie heißen Sie überhaupt? Ich weiß gar nicht, wie ich Sie nennen soll.«
»Toru Okada«, sagte ich.
Sie sprach sich den Namen ein paarmal vor. »Nicht grad umwerfend als Name, was?« sagte sie.
»Vielleicht nicht«, sagte ich. »Ich hab immer gefunden, er klingt irgendwie nach einem Außenminister von vor dem Krieg: Toru Okada. Na?«
»Das sagt mir gar nichts. Ich kann Geschichte nicht ausstehen. Das ist mein schlechtestes Fach. Egal, vergessen Sie’s. Haben Sie keinen Spitznamen? Was Einfacheres als Toru Okada?«
Ich konnte mich nicht erinnern, je einen Spitznamen gehabt zu haben. Zu keinem Zeitpunkt meines Lebens. Woran das wohl lag? »Keinen Spitznamen«, sagte ich. »Nichts? Bär? Oder Frosch?«
»Nichts.«
»O je«, sagte sie. »Denken Sie sich was aus.«
»Aufziehvogel«, sagte ich.
»Aufziehvogel?« fragte sie und starrte mich offenen Mundes an. »Was is’n das? «
»Der Vogel, der die Feder aufzieht«, sagte ich. »Jeden Morgen. Oben in den Bäumen. Er zieht die Feder der Welt auf. Quiiiietscb. « Sie starrte mich weiterhin an.
Ich seufzte. »Das ist mir einfach so eingefallen«, sagte ich. »Und das ist noch nicht alles. Der Vogel fliegt jeden Tag über mein Haus weg und macht im Baum des Nachbarn quiiiietsch. Aber keiner hat ihn je gesehen.«
»Das ist ganz hübsch, glaub ich. Egal, ab jetzt sind Sie Mister Aufziehvogel. Sagt sich zwar auch nicht ganz leicht, aber ist um Längen besser als Toru Okada.«
»Herzlichen Dank.« Sie zog die Füße auf den Stuhl hoch und stützte das Kinn auf die Knie.
»Was ist mit deinem Namen?« fragte ich. »May Kasahara. May … wie der Monat Mai.«
»Bist du im Mai geboren?«
»Da fragen Sie noch? Könnten Sie sich das Durcheinander vorstellen, wenn jemand, der im Juni geboren ist, May hieße?«
»Da hast du wohl recht«, sagte ich. »Ich nehm an, du bist immer noch krank geschrieben?«
»Ich hab Sie die ganze Zeit beobachtet«, sagte sie, ohne auf meine Frage einzugehen. »Von meinem Zimmer aus. Mit dem Fernglas. Ich hab Sie durch das Tor reingehen sehen. Ich hab immer ein kleines Fernglas griffbereit liegen, um zu beobachten, was auf der Gasse passiert.
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