Mister Aufziehvogel
Vater glatt und endgültig gewesen. Hinterher, nachdem ich mir alles, was ich loswerden mußte, von der Seele geredet hatte, war erstaunlicherweise nicht der mindeste Zorn in mir zurückgeblieben. Ich verspürte nur Erleichterung. Ich brauchte ihn nie wiederzusehen: Es war ein Gefühl, als sei mir eine gewaltige Last, die ich seit langem mit mir herumgeschleppt hatte, mit einemmal von den Schultern genommen. All mein Zorn und Haß waren verflogen. Ich brachte sogar ein gewisses Mitgefühl für die Schwierigkeiten auf, mit denen er im Laufe seines Lebens zu kämpfen gehabt hatte - wie dumm und abstoßend mir dieses Leben auch erscheinen mochte. Ich sagte Kumiko, daß ich ihre Eltern nie wiedersehen würde, daß sie sie aber selbstverständlich, wann immer sie wolle, ohne mich besuchen könne. Kumiko unternahm indes nicht den Versuch, sie zu sehen. »Mach dir keine Gedanken«, sagte sie. »Ich war auch nicht gerade wild auf diese Familienbesuche.«
Noboru Wataya hatte damals noch bei seinen Eltern gewohnt, aber als die Auseinandersetzung zwischen seinem Vater und mir begann, war er einfach ohne ein Wort aus dem Zimmer gegangen. Das hatte mich nicht weiter überrascht. Als Mensch war ich für ihn vollkommen bedeutungslos. Er tat sein Bestes, um den persönlichen Umgang mit mir auf das Unvermeidliche zu beschränken. Und so bestand für mich, als ich meine Besuche bei Kumikos Eltern einstellte, auch keinerlei Veranlassung mehr, Noboru Wataya zu sehen. Kumiko ihrerseits hatte zumindest keinen Grund, sich um eine Begegnung mit ihm sonderlich zu bemühen. Er war sehr beschäftigt, sie war sehr beschäftigt, und besonders nah hatten sie sich ohnehin nie gestanden. Trotzdem rief Kumiko ihn von Zeit zu Zeit auf dem Campus an, und er rief sie von Zeit zu Zeit in der Redaktion an (bei uns zu Hause allerdings nie). Sie erzählte mir immer von diesen Telefongesprächen, ohne näher auf deren Inhalt einzugehen. Ich fragte sie nie danach, und von sich aus informierte sie mich nur, wenn es nötig war. Es war mir völlig egal, worüber Kumiko und Noboru Wataya miteinander redeten. Was nicht heißen soll, daß ich ihr die Tatsache, daß sie miteinander redeten, übelgenommen hätte. Ich verstand es einfach nicht. Was konnten zwei so verschiedene Menschen einander schon zu sagen haben? Oder ermöglichte lediglich der besondere Filter der Blutsverwandtschaft diese Kontakte?
Noboru Wataya und Kumiko waren zwar Geschwister, aber es trennte sie ein Altersunterschied von neun Jahren. Ein weiterer Umstand, der das Fehlen jeglicher wahrnehmbarer Wärme zwischen den beiden erklären mochte, war die Tatsache, daß Kumiko mehrere Jahre lang bei der Familie ihres Vaters gelebt hatte. Kumiko und Noboru waren nicht die einzigen Kinder der Watayas gewesen. Zwischen ihnen hatte es noch eine Schwester gegeben, fünf Jahre älter als Kumiko. Als Dreijährige war Kumiko aber von Tokio ins ferne Niigata geschickt worden, damit sie eine Zeitlang bei ihrer Großmutter lebe. Später erzählten die Eltern Kumiko, sie hätten so gehandelt, weil sie ein kränkliches Kind gewesen sei und sie gemeint hätten, die saubere Landluft würde ihr guttun, aber sie hatte ihnen nie recht geglaubt. Soweit sie sich erinnern konnte, war sie nie schwächlich gewesen. Sie war nie ernstlich krank gewesen, und in ihrem neuen Zuhause in Niigata sorgte sich niemand besonders um ihre Gesundheit. »Ich bin sicher, das war nur eine Ausrede«, sagte Kumiko einmal zu mir.
Bestärkt hatte sie in ihren Zweifeln etwas, was sie von einem Verwandten erfahren hatte. Offenbar hatten Kumikos Mutter und ihre Großmutter seit langem miteinander in Fehde gelegen, und die Entscheidung, Kumiko nach Niigata zu bringen, war das Resultat eines Waffenstillstands, den die beiden geschlossen hatten. Indem sie Kumiko eine Zeitlang aus der Hand gaben, hatten die Eltern den Zorn der Großmutter besänftigt, und dadurch, daß ihr ein Enkelkind überantwortet wurde, hatte die Großmutter einen greifbaren Beweis ihrer Beziehung zu ihrem Sohn (Kumikos Vater) erhalten. Kumiko war, mit anderen Worten, so etwas wie eine Geisel gewesen.
»Außerdem«, sagte Kumiko zu mir, »hatten sie schon zwei andere Kinder. Ihr drittes aufzugeben, war für sie kein großes Opfer. Nicht, daß sie vorgehabt hätten, mich loszuwerden: Ich glaube, sie meinten einfach, es würde einem so kleinen Kind nicht allzu viel ausmachen, fortgeschickt zu werden. Sie haben wahrscheinlich nie richtig darüber nachgedacht. Es war eben die
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