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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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um diese Zeit lernte ich Noboru Wataya kennen.«
    »Noboru Wataya?! Als Kunden?!«
    Kreta Kano nickte schweigend.
    »Aber -« setzte ich an, unterbrach mich dann und überlegte, wie ich mich ausdrücken sollte. »Ich verstehe nicht ganz. Ihre Schwester erzählte mir neulich, Noboru Wataya habe Sie vergewaltigt. War das etwas anderes als das, wovon Sie jetzt sprechen?«
    Kreta Kano nahm das Taschentuch von ihrem Schoß und betupfte sich noch einmal den Mund. Dann sah sie mich an. Etwas in ihren Augen berührte mein Herz auf eine Weise, die mich zutiefst beunruhigte.
    »Es tut mir leid, Ihnen Umstände zu bereiten«, sagte sie, »aber könnte ich vielleicht noch eine Tasse Kaffee haben?«
    »Selbstverständlich«, sagte ich. Ich stellte ihre Tasse auf das Tablett und trug sie in die Küche. Während ich darauf wartete, daß der Kaffee kochte, lehnte ich mich mit den Händen in den Taschen gegen die Spüle. Als ich mit dem Kaffee ins Wohnzimmer zurückkam, saß Kreta Kano nicht mehr auf dem Sofa. Ihre Tasche, ihr Taschentuch, jede sichtbare Spur von ihr war verschwunden. Ich sah in der Diele nach, und auch ihre Schuhe waren verschwunden. Irre.

9
    A BZUGSKANÄLE UND EINE VÖLLIG
    UNZUREICHENDE STROMVERSORGUNG
    MAY KASAHARAS UNTERSUCHUNG
    ÜBER DIE NATUR VON HAARTEILEN
     
    Am nächsten Morgen ging ich, sobald Kumiko aus dem Haus war, auf ein paar Bahnen ins Schwimmbad. Vormittags war es dort am besten, wenn man Gedränge vermeiden wollte. Wieder zu Haus, kochte ich mir einen Kaffee und setzte mich damit an den Küchentisch: Ich ließ mir Kreta Kanos seltsame unvollendete Geschichte durch den Kopf gehen und versuchte, mir jedes Ereignis ihres Lebens in der richtigen zeitlichen Abfolge ins Gedächtnis zurückzurufen. Je mehr mir wieder einfiel, desto seltsamer erschien mir die ganze Geschichte, aber bald beruhigten sich meine kreisenden Gedanken, und ich begann einzunicken. Ich ging ins Wohnzimmer, legte mich aufs Sofa und machte die Augen zu. Im nächsten Moment war ich eingeschlafen und träumte.
    Ich träumte von Kreta Kano. Bevor sie auftauchte, träumte ich allerdings von Malta Kano. Sie trug einen Tirolerhut mit einer großen, grellfarbigen Feder. Es herrschte ein starkes Gedränge (ich befand mich in einem großen Saal), aber Malta Kanos Hut fiel mir sofort ins Auge. Sie saß allein an der Bar. Sie hatte ein großes Glas mit einem tropisch-bunten Cocktail vor sich stehen, aber ich konnte nicht erkennen, ob sie wirklich davon trank.
    Ich trug meinen Anzug und den gepunkteten Schlips. Sobald ich Malta Kano entdeckt hatte, versuchte ich, in ihre Richtung zu gehen, aber die Menschenmenge war mir ständig im Weg. Als ich die Bar endlich erreichte, war Malta Kano verschwunden. Der tropische Cocktail stand auf dem Tresen vor ihrem mittlerweile leeren Barhocker. Ich setzte mich daneben an die Bar und bestellte einen Scotch on the rocks. Der Barkeeper fragte mich, was für einen Scotch ich haben wollte, und ich sagte Cutty Sark. Es war mir eigentlich völlig gleichgültig, welche Marke er mir einschenkte, aber Cutty Sark war die erste, die mir einfiel. Bevor er mir meinen Drink geben konnte, spürte ich, wie eine Hand von hinten meinen Arm umfaßte, aber so behutsam, als ob der oder die Betreffende etwas berührte, was jeden Augenblick auseinanderbrechen könnte. Ich drehte mich um. Vor mir stand ein Mann ohne Gesicht. Ob er wirklich kein Gesicht hatte, konnte ich nicht erkennen, aber die Stelle, an der sich sein Gesicht hätte befinden müssen, war in tiefen Schatten gehüllt, und was sich dahinter verbarg, konnte ich nicht sehen. »Hier entlang, Herr Okada«, sagte er. Ich versuchte, etwas zu erwidern, aber bevor ich den Mund aufmachen konnte, sagte er zu mir: »Folgen Sie mir bitte. Wir haben sehr wenig Zeit. Schnell.« Die Hand noch immer an meinem Arm, führte er mich mit raschen Schritten durch die Menge und hinaus auf einen Korridor. Widerstandslos folgte ich ihm den Korridor entlang. Schließlich kannte er meinen Namen, es war also nicht so, als ließe ich mich von einem wildfremden Menschen irgendwohin führen. Die ganze Sache hatte einen bestimmten Sinn und Zweck.
    Nachdem wir eine Zeitlang den Korridor entlanggegangen waren, blieb der Gesichtslose vor einer Tür stehen. Auf dem Türschild stand die Zahl 208. »Es ist nicht abgeschlossen. Aufmachen sollten Sie. « Ich gehorchte und öffnete die Tür. Dahinter befand sich ein großes Zimmer; es schien zu einer Suite in einem altmodischen Hotel zu gehören. Es war

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