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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Strömung des Flusses mitgerissen. Es rauscht und rauscht, immer schneller und schneller. Aber ich begreife nicht, was es bedeutet. Und dann, urplötzlich, da weiß ich es - daß Dunkelheit auf mich zukommt. Echte Dunkelheit. Bald ist sie da und versucht, mich zu verschlucken. Ich spüre, wie ein kalter Schatten beginnt, sich um mich zu legen. Das ist meine früheste Erinnerung.«
    Sie trank einen Schluck Kaffee.
    »Ich fürchte mich zu Tode«, sagte sie. »Ich habe eine solche Angst, daß es fast unerträglich ist. Ich fühle mich wie damals, als würde ich fortgerissen, auf dieses Etwas zu, und ich kann nicht weg.«
    Sie holte eine Zigarette aus ihrer Handtasche, steckte sie sich zwischen die Lippen und gab sich mit einem Streichholz Feuer. Dann stieß sie den Rauch mit einem tiefen, langsamen Seufzer aus. Es war das erste Mal, daß ich sie rauchen sah. »Reden Sie von Ihrer Heirat?« fragte ich. »Genau«, sagte sie. »Von meiner Heirat.«
    »Gibt’s irgendein besonderes Problem?« fragte ich. »Etwas Bestimmtes?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht«, sagte sie. »Nein, eigentlich nicht. Nur viele Kleinigkeiten.«
    Ich wußte nicht, was ich ihr hätte sagen sollen, aber die Situation verlangte, daß ich irgend etwas sagte.
    »Jeder, der kurz vor der Heirat steht, hat wohl dieses Gefühl - mehr oder weniger stark. ›O Gott, was mach ich da nur für eine Riesendummheit!‹ Sie wären wahrscheinlich nicht normal, wenn Sie sich nicht so fühlen würden. Es ist schon eine schwerwiegende Entscheidung, sich jemanden auszusuchen, mit dem man den Rest seines Lebens verbringen wird. Es ist also ganz natürlich, Angst zu haben, aber so sehr brauchen Sie sich wieder nicht zu fürchten.«
    »Das sagt sich leicht - ›Jeder hat dieses Gefühl. Es geht jedem so‹«, sagte sie. Es war elf geworden; schon vor längerer Zeit. Ich mußte dieses Gespräch irgendwie zu einem erfolgreichen Abschluß bringen und verschwinden. Aber bevor ich etwas sagen konnte, bat sie mich plötzlich, sie festzuhalten. »Warum?« fragte ich überrumpelt.
    »Um meine Batterien wieder aufzuladen.«
    »Ihre Batterien wieder aufzuladen?«
    »Meinem Körper ist der Strom ausgegangen. Ich kann schon seit Tagen nicht mehr schlafen. Kaum bin ich eingenickt, wache ich wieder auf und kann dann nicht wieder einschlafen. Ich kann keinen klaren Gedanken fassen. Wenn ich in einen solchen Zustand gerate, muß jemand meine Batterien wieder aufladen. Sonst breche ich zusammen. Ich übertreibe nicht.«
    Ich sah ihr argwöhnisch in die Augen und fragte mich, ob sie noch immer betrunken war, aber es waren wieder ihre normalen kühlen, klugen Augen. Sie war nicht im mindesten betrunken.
    »Aber Sie heiraten doch nächste Woche. Sie können sich von ihm so lange festhalten lassen, wie Sie möchten. Jede Nacht. Dazu ist doch die Ehe da. Da wird Ihnen nie wieder der Strom ausgehen.«
    »Das Problem ist jetzt « , sagte sie. »Nicht morgen, nicht nächste Woche, nicht nächsten Monat. Ich hab jetzt keine Energie mehr.«
    Die Lippen fest aufeinandergepreßt, starrte sie auf ihre Füße hinunter. Sie standen vollkommen parallel nebeneinander, klein und weiß und mit zehn hübschen Zehennägeln. Sie brauchte offenbar wirklich, ernstlich jemanden, der sie festhielt, also nahm ich sie in die Arme. Es war eine sehr merkwürdige Situation. Für mich war sie lediglich eine fähige, angenehme Kollegin. Wir arbeiteten im selben Büro, erzählten uns Witze und waren ab und an zusammen etwas trinken gegangen. Aber hier, fern der Arbeitswelt, in ihrer Wohnung, so aneinandergelehnt, waren wir nichts anderes als zwei warme Klumpen Fleisch. Im Büro-Theater hatten wir die uns aufgetragenen Rollen gespielt, aber jetzt, wo wir von der Bühne abgetreten waren und unsere zeitweiligen Persönlichkeiten zurückgelassen hatten, waren wir nur noch zwei unsichere, hilflose Klumpen Fleisch, warme Fleischstücke, jedes ausgestattet mit Verdauungsapparat und Herz und Gehirn und Geschlechtsorganen. Ich hatte meine Arme um ihren Rücken geschlungen, und sie hatte ihre Brüste fest gegen meinen Brustkorb gepreßt. Sie waren größer und weicher, als ich sie mir vorgestellt hatte. Ich saß auf dem Fußboden mit dem Rücken an der Wand, und sie hing zusammengesackt an mir. Wir blieben lange in dieser Haltung, dieser wortlosen Umarmung.
    »Ist es gut so?« fragte ich mit einer Stimme, die nicht wie meine klang. Es war, als spräche jemand anders für mich.
    Sie sagte nichts, aber ich spürte, wie

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