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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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ein paar Sekunden lang an. Dann ging ich in die Küche und schälte mir einen Apfel.
     
    In den sechs Jahren, die ich mit Kumiko verheiratet war, hatte ich noch nie mit einer anderen Frau geschlafen. Was nicht heißen soll, daß ich nie Lust auf eine andere Frau verspürt oder sich nie eine Gelegenheit geboten hätte, sondern lediglich, daß ich solche Gelegenheiten nie genutzt hatte. Warum, kann ich nicht genau erklären, aber es hat wahrscheinlich damit zu tun, wie man seine Prioritäten im Leben setzt.
    Einmal verbrachte ich tatsächlich die Nacht mit einer anderen Frau. Ich mochte sie, und ich wußte, daß sie mit mir geschlafen hätte. Aber am Ende habe ich es dann doch nicht getan.
    Wir arbeiteten seit mehreren Jahren in der Anwaltskanzlei zusammen. Sie war wahrscheinlich zwei, drei Jahre jünger als ich. Ihre Aufgabe war, Anrufe entgegenzunehmen und die Terminkalender aller Mitarbeiter zu koordinieren, und sie machte ihre Sache gut. Sie war schnell, und sie hatte ein hervorragendes Gedächtnis. Man konnte ihr jede beliebige Frage stellen, und sie wußte prompt die Antwort: Wer gerade wo und woran arbeitete, welche Akten in welchem Schrank waren, solche Dinge. Sie kümmerte sich um sämtliche Termine. Jeder mochte sie und verließ sich auf sie. Auch persönlich standen wir uns ziemlich nah. Wir waren schon mehrmals zusammen etwas trinken gegangen. Sie war nicht direkt das, was man eine Schönheit nennen würde, aber sie gefiel mir.
    Als der Augenblick kam, wo sie wegen ihrer bevorstehenden Heirat kündigte (ihr zukünftiger Mann war nach Kyushu versetzt worden, und so würde sie wegziehen müssen), luden sie mehrere Kollegen und ich auf einen letzten gemeinsamen Drink ein. Hinterher mußten wir beide denselben Zug nach Haus nehmen, und da es spät war, begleitete ich sie bis zu ihrer Wohnung. Als wir vor der Tür standen, bat sie mich noch auf eine Tasse Kaffee herein. Ich machte mir zwar Sorgen, daß ich den letzten Zug verpassen könnte, aber ich wußte, daß wir uns wahrscheinlich nie wiedersehen würden, und außerdem würde ich vom Kaffee wieder einen klaren Kopf bekommen, was mir nur recht war, also nahm ich die Einladung an. Es war eine typische Junggesellenwohnung, mit einem Kühlschrank, der für eine einzelne Person eine Spur zu protzig war, und einer kleinen Einbau-Stereoanlage. Den Kühlschrank hatte sie von einer Freundin geschenkt bekommen. Sie zog sich im Nebenzimmer etwas Bequemeres an und kochte in der Küche Kaffee. Wir setzten uns auf den Fußboden und unterhielten uns. Dann, als uns der Gesprächsstoff ausgegangen war, fragte sie mich, als sei es ihr plötzlich eingefallen: »Können Sie eine Sache - eine konkrete Sache - nennen, vor der Sie sich besonders fürchten?«
    »Eigentlich nicht«, sagte ich nach kurzem Überlegen. Ich fürchtete mich vor allen möglichen Dingen, aber eine spezielle große Angst hatte ich nicht. »Wie steht’s mit Ihnen?«
    »Ich habe Angst vor Abzugskanälen«, sagte sie und schlang die Arme um ihre Knie. »Sie wissen doch, was ein Abzugskanal ist, oder?«
    »So eine Art Wassergraben, nicht?« Ich hatte keine ganz klare Vorstellung davon. »Ja, aber unterirdisch. Eine unterirdische Wasserstraße. Ein Abflußgraben mit einem Deckel drauf. Ein stockdunkler Fluß.«
    »Ich verstehe«, sagte ich. »Ein Abzugskanal.«
    »Ich bin auf dem Land geboren und aufgewachsen. In Fukushima. Ein Flüßchen ging direkt an unserem Haus vorbei - nicht viel mehr als ein Bach, einfach der Abflußgraben der Felder. An einem Punkt versank er im Boden und mündete in einen Abzugskanal. Ich hatte wohl mit den älteren Kindern gespielt, als es passierte - ich war erst zwei oder drei. Die anderen legten mich in ein kleines Boot und schoben es in den Bach. Das war wahrscheinlich etwas, was sie andauernd taten, aber an dem Tag hatte es geregnet, und der Bach führte viel Wasser. Das Boot riß sich los und trug mich geradewegs auf die Öffnung des Abzugskanals zu. Ich wäre glatt hineingesogen worden, wenn nicht zufällig gerade ein Bauer vorbeigekommen wäre. Bestimmt hätte man mich nie wieder gefunden.« Sie strich sich mit dem linken Zeigefinger über den Mund, als wollte sie sich vergewissern, daß sie noch immer am Leben war.
    »Ich sehe noch immer alles deutlich vor mir. Ich liege auf dem Rücken und werde vom Wasser mitgerissen. Die Seiten des Grabens ragen wie Steinmauern links und rechts in die Höhe, und über mir ist der blaue Himmel. Ein grelles, klares Blau. Ich werde von der

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