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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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verlor.
    Unglücklicherweise erwies sich die Mauer jedoch als weit weniger stabil, als sie ausgesehen hatte. Um Geld zu sparen, hatte man sie nicht richtig verankert. Die Mauer stürzte einfach ein und drückte die Schnauze des Wagens flach. Mehr passierte nicht. Weil sie so weich war, fing die Mauer die ganze Wucht des Aufpralls ab. Und als ob das noch nicht schlimm genug gewesen wäre, hatte ich in meiner Verwirrung vergessen, den Sicherheitsgurt zu lösen.
    Und so entging ich dem Tod. Ich war nicht einmal ernstlich verletzt. Das Seltsamste aber war, daß ich fast keine Schmerzen verspürte. Es war geradezu unheimlich. Man brachte mich ins Krankenhaus und versorgte die eine Rippe, die ich mir gebrochen hatte. Die Polizei kam und stellte Fragen, aber ich sagte, ich könne mich an gar nichts erinnern. Ich sagte, ich müsse wohl Bremse und Gaspedal miteinander verwechselt haben, und sie glaubten mir. Ich war gerade zwanzig geworden, und ich hatte den Führerschein erst seit knapp sechs Monaten. Außerdem sah ich nicht wie eine Selbstmörderin aus. Und wer würde schon versuchen, sich mit angelegtem Sicherheitsgurt totzufahren?
    Als ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde, stand ich vor mehreren schwierigen Problemen. Zunächst einmal mußte ich die ausstehenden Raten für den MR2 abbezahlen, den ich zu Schrott gefahren hatte. Wegen irgendeines Versehens war das Auto nicht kaskoversichert gewesen.
    Jetzt, wo es zu spät war, begriff ich, daß ich besser einen ordnungsgemäß versicherten Leihwagen hätte nehmen sollen. Aber in dem Moment waren Versicherungen natürlich das letzte gewesen, woran ich dachte. Es war mir nicht in den Sinn gekommen, daß das Auto meines Bruders nicht ausreichend versichert sein könnte - oder daß es mir nicht gelingen würde, mich umzubringen. Ich war mit hundertfünfzig Stundenkilometern gegen eine Steinmauer gerast: daß ich überlebt hatte, war erstaunlich.
    Kurze Zeit später bekam ich von der Eigentümergemeinschaft der Wohnanlage eine Rechnung für die Reparatur der Mauer. Sie verlangten von mir 1.364.294 Yen. Zahlbar sofort, bar auf den Tisch. Mir blieb nichts anderes übrig, als mir das Geld von meinem Vater zu leihen. Er war bereit, mir ein Darlehen in der erforderlichen Höhe zu geben, betonte aber, ich müsse es ihm wirklich zurückzahlen. Mein Vater war in Gelddingen überaus penibel. Er sagte, ich hätte den Unfall verschuldet und er erwarte von mir, daß ich das Darlehen in voller Höhe und zum vereinbarten Termin zurückzahle. Tatsächlich hatte er damals sehr wenig Geld übrig. Er plante, seine Klinik auszubauen, und hatte Probleme damit, die nötigen Mittel zusammenzubringen.
    Ich dachte erneut daran, mich umzubringen. Diesmal würde ich es richtig anfangen. Ich würde vom fünfzehnten Stock des Verwaltungsgebäudes der Universität springen, so konnte ich nichts falsch machen. Ich würde ganz bestimmt sterben. Ich bereitete die Sache sorgfältig vor. Ich suchte das Fenster aus, das sich am besten eignete. Ich war bereit zu springen.
    Aber dann hielt mich etwas zurück. Irgend etwas stimmte nicht, ließ mir keine Ruhe. Dieses ›Etwas‹ riß mich in der letzten Sekunde fast buchstäblich vom Abgrund zurück. Es verging allerdings noch einige Zeit, bis ich begriff, was dieses Etwas war.
    Ich hatte keinerlei Schmerzen.
    Seit dem Unfall hatte ich so gut wie keine Schmerzen mehr gehabt. Da ständig etwas Neues auf mich zugekommen war, hatte ich keine ruhige Minute gehabt und nicht darauf geachtet, aber der Schmerz war aus meinem Körper verschwunden. Mein Stuhlgang war normal. Meine Menstruationskrämpfe waren weg. Keine Kopf- oder Magenschmerzen mehr. Selbst die gebrochene Rippe tat so gut wie gar nicht weh. Ich hatte keine Ahnung, wie das passiert sein konnte. Aber auf einmal war ich frei von Schmerzen.
    Ich beschloß, erst einmal weiterzuleben. Wenn auch nur für kurze Zeit, wollte ich doch sehen, was es bedeutete, ein Leben ohne Schmerzen zu führen. Sterben konnte ich schließlich, wann immer ich wollte.
    Aber weiterzuleben bedeutete für mich, meine Schulden zurückzuzahlen. Alles in allem beliefen sie sich auf über drei Millionen Yen. Um sie zurückzahlen zu können, wurde ich Prostituierte.«
    »Prostituierte?!«
    »Genau«, sagte Kreta Kano, als sei überhaupt nichts dabei. »Ich brauchte kurzfristig Geld. Ich wollte meine Schulden so schnell wie möglich zurückzahlen, und das war die einzige Möglichkeit, die ich sah, das Geld zusammenzubringen. Ich brauchte

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