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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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keinen Augenblick darüber nachzudenken. Ich hatte ernsthaft vorgehabt zu sterben und hatte weiterhin vor, früher oder später zu sterben. Meine Neugier auf ein schmerzfreies Dasein hielt mich im Augenblick am Leben, aber es war ganz fraglos ein Leben auf Abruf. Und gemessen am Tod bedeutete es nichts für mich, meinen Körper zu verkaufen.«
    »Ich verstehe, was Sie meinen«, sagte ich.
    Das Eis in ihrem Orangensaft war geschmolzen, und Kreta Kano rührte mit ihrem Strohhalm ein paarmal um, bevor sie ein Schlückchen nahm.
    »Darf ich Sie vielleicht etwas fragen?« sagte ich.
    »Aber selbstverständlich. Bitte.«
    »Haben Sie in dieser Angelegenheit Ihre Schwester nicht um Rat gebeten?«
    »Zu der Zeit ging sie auf Malta ihren asketischen Übungen nach und weigerte sich, mir ihre Adresse zu schicken. Sie wollte nicht, daß ich sie in ihrer Konzentration störte. Während der ganzen drei Jahre, die sie auf Malta verbrachte, war es mir praktisch unmöglich, ihr zu schreiben.«
    »Ich verstehe«, sagte ich. »Hätten Sie gern noch eine Tasse Kaffee?«
    »Ja, bitte«, sagte Kreta Kano.
    Ich ging in die Küche und wärmte den Kaffee auf. Während ich wartete, starrte ich auf die Abzugshaube und holte mehrmals tief Luft. Als der Kaffee fertig war, goß ich ihn in zwei saubere Tassen und trug diese zusammen mit einem Teller Schokoladenplätzchen auf einem Tablett ins Wohnzimmer. Eine Zeitlang aßen und tranken wir schweigend.
    »Wie lang ist es her, daß Sie versucht haben, sich das Leben zu nehmen?« fragte ich. »Ich war damals zwanzig. Das war also vor sechs Jahren, im Mai 1978.« Mai 1978 war der Monat, in dem Kumiko und ich geheiratet hatten. Genau in dem Monat also, in dem wir geheiratet hatten, hatte Kreta Kano versucht, sich umzubringen, und Malta Kano war auf Malta ihren asketischen Übungen nachgegangen.
    »Ich fuhr in ein Viertel, in dem es viele Bars gab, sprach den ersten Mann an, der danach aussah, handelte einen Preis aus, ging mit ihm in ein Hotel und schlief mit ihm«, sagte Kreta Kano. »Sex verursachte mir keinerlei körperliche Schmerzen mehr. Und keinerlei Vergnügen. Es war einfach nur eine körperliche Betätigung. Ebensowenig bereitete es mir Schuldgefühle, für Geld Sex zu haben. Ich war wie betäubt, in abgrundtiefe Gefühllosigkeit getaucht.
    Ich verdiente auf diese Weise sehr gut - allein im ersten Monat fast eine Million Yen. Wenn es so weiterging, konnte ich binnen drei, vier Monaten meine ganzen Schulden abbezahlen. Ich kam von der Universität zurück, ging abends aus, und spätestens um zehn war ich wieder daheim. Meinen Eltern erzählte ich, daß ich als Kellnerin arbeitete, und niemand schöpfte den geringsten Verdacht. Natürlich hätten sie sich gewundert, wenn ich eine so hohe Summe auf einmal zurückgezahlt hätte, also beschloß ich, meinem Vater monatlich 100.000 Yen zu geben und den Rest beiseite zu legen.
    Eines Abends aber, als ich gerade am Bahnhof Freier ansprach, packten mich zwei Männer von hinten. Ich dachte zuerst, es seien Polizisten, aber dann begriff ich, daß es Gangster waren. Sie zerrten mich in eine Seitengasse, zeigten mir eine Art Dolch und brachten mich zu ihrem Hauptquartier. Sie stießen mich in ein Hinterzimmer, rissen mir die Kleider vom Leib, hängten mich bei den Handgelenken auf und vergewaltigten mich dann einer nach dem anderen, immer und immer wieder, vor laufender Videokamera. Ich hielt die Augen die ganze Zeit geschlossen und versuchte, an nichts zu denken. Was mir nicht schwerfiel, da ich weder Schmerz noch Lust empfand.
    Hinterher zeigten sie mir das Video und sagten, wenn ich nicht wollte, daß jemand das zu sehen bekäme, sollte ich mich ihrer Organisation anschließen und für sie arbeiten. Sie holten meinen Studentenausweis aus meiner Handtasche. Wenn ich mich weigerte zu tun, was sie verlangten, sagten sie, würden sie meinen Eltern eine Kopie der Kassette schicken und ihnen noch den letzten Yen abpressen. Ich hatte keine andere Wahl. Ich sagte ihnen, daß ich tun würde, was sie von mir wollten, daß es mir gleichgültig sei. Und es war mir wirklich gleichgültig. Damals war mir alles gleichgültig. Sie wiesen mich darauf hin, daß meine Einkünfte zurückgehen würden, wenn ich mich ihrer Organisation anschlösse, weil sie siebzig Prozent nahmen, aber dafür würde ich mir nicht mehr die Mühe zu machen brauchen, Freier zu suchen, und von der Polizei würde ich auch nichts mehr zu befürchten haben. Sie würden mir erstklassige Freier

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