Mister Aufziehvogel
mich fühlen würde, wenn sie tatsächlich davon Gebrauch machte. Ich würde ihr wahrscheinlich glauben, aber meine Reaktion würde mit Sicherheit genauso komplex und so schwer zu verarbeiten sein, wie es ihre gewesen war. Allein die Vorstellung, daß sie so etwas ganz bewußt und vorsätzlich getan hatte - und wozu? Und ganz genau das gleiche mußte schließlich damals in ihr vorgegangen sein.
»Mister Aufziehvogel!« ertönte eine Stimme aus dem Garten. Es war May Kasahara.
Noch an meinen feuchten Haaren rubbelnd, ging ich hinaus auf die Veranda. Sie saß auf der Brüstung und kaute an einem Daumennagel. Sie trug dieselbe dunkle Sonnenbrille wie damals, als ich sie zum erstenmal gesehen hatte, und dazu eine cremefarbene Baumwollhose und ein schwarzes Polohemd. In der Hand hielt sie ein Klemmbrett.
»Ich bin drübergestiegen«, sagte sie und deutete auf die Hohlblockmauer. Dann klopfte sie sich den Schmutz von der Hose. »Hab angenommen, hier müßte ich richtig sein. Ich bin froh, daß es wirklich Ihr Haus ist! Stellen Sie sich vor, ich wär bei einem Wildfremden über die Mauer gestiegen!« Sie zog ein Päckchen Hope ohne aus der Tasche und steckte sich eine an. »Und, Mister Aufziehvogel, wie läuft’s denn so?«
»Ganz gut, würd ich sagen.«
»Ich geh jetzt arbeiten«, sagte sie. »Warum kommen Sie nicht einfach mit? Wir arbeiten immer in Zweiergruppen, und es wär sooo viel besser, wenn ich jemand hätte, den ich kenne. So’n Neuer würde mir Löcher in den Bauch fragen - ›Wie alt bist du eigentlich? Warum bist du nicht in der Schule?‹ Das nervt! Oder am Ende ist er ein Perverser. Das kommt nämlich vor! Tun Sie mir den Gefallen, ja, Mister Aufziehvogel?«
»Ist das der Job, von dem du mir erzählt hast - irgend so eine Art Datenerhebung für einen Toupethersteller?«
»Genau«, sagte sie. »Man braucht nichts anderes zu tun, als von eins bis vier auf der Ginza Glatzköpfe zu zählen. Das ist einfach! Und es wär gut für Sie. So wie’s aussieht, werden Sie eines Tages auch eine Glatze haben, da sollten Sie’s besser abchecken, solang Sie noch Haare auf dem Kopf haben.«
»Schon, aber was ist mit dir? Kriegst du nicht die Schulbehörde auf den Hals, wenn dich jemand sieht, wie du dich mitten am Tag auf der Ginza herumtreibst und Strichlisten machst?«
»Nö. Ich sag denen einfach, das ist Feldforschung, für ne Hausarbeit in Gemeinschaftskunde. Funktioniert immer.«
Da ich keine Pläne für den Nachmittag hatte, beschloß ich mitzugehen. May Kasahara rief ihre Firma an, um uns anzukündigen. Am Telefon verwandelte sie sich in eine wohlerzogene junge Dame: Ja, Herr Soundso, ich würde gern mit ihm zusammenarbeiten, ja, das ist richtig, vielen Dank, ja, ich verstehe, ja, wir können kurz nach zwölf da sein. Ich schrieb für Kumiko ein paar Zeilen, ich würde um sechs zurücksein, für den Fall, daß sie früher heimkam, und dann machte ich mich mit May Kasahara auf den Weg.
Die Toupetfirma war in Shimbashi. In der U-Bahn erklärte mir May Kasahara, wie die Erhebung funktionierte. Wir würden uns an eine Straßenecke stellen und alle kahlköpfigen Männer (beziehungsweise solche mit zurückgehendem Haaransatz) zählen, die vorbeikamen. Dabei sollten wir sie nach dem Grad ihrer Kahlheit klassifizieren: C, solche, deren Haar sich vielleicht etwas gelichtet hatte; B, solche, denen schon viel ausgefallen war; und A, solche, die eine richtige Glatze hatten. May holte eine Broschüre aus ihrer Mappe und zeigte mir Beispiele für die drei Stadien der Entwicklung.
»Da kriegt man doch ne ziemlich gute Vorstellung, stimmt’s, welche Köpfe in welche Kategorie gehören, nicht? Ich will nicht ins Detail gehen. Das würd den ganzen Tag dauern. Aber daraus wird doch ziemlich klar, was was ist, nicht?«
»Ziemlich«, sagte ich, ohne allzu überzeugt zu klingen.
Auf May Kasaharas anderer Seite saß ein übergewichtiger Schlips-und-Kragen-Typ - ein ganz eindeutiger Fall B -, der unentwegt mit verunsicherter Miene in die Broschüre schielte, aber sie schien nicht zu merken, wie nervös sie ihn machte. »Meine Aufgabe ist, sie nach Klassen zu ordnen, und Sie stehen mit einem Erhebungsbogen neben mir. Je nachdem, was ich Ihnen sage, machen Sie einen Strich unter A, B oder C. Mehr ist da nicht. Ganz einfach, stimmt’s?«
»Ich denk schon«, sagte ich. »Aber wozu ist eine solche Erhebung eigentlich gut?«
»Keinen Schimmer«, sagte sie. »Die machen das in ganz Tokio - in Shinjuku, Shibuya, Aoyama.
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