Mister Aufziehvogel
nach und nach, über einen langen Zeitraum hinweg zu sterben. Was meinen Sie?« Unsicher, worauf sie genau hinauswollte, wechselte ich die Hand an der Halteschlaufe und sah ihr in die Augen. »Kannst du mir ein konkretes Beispiel geben, was du damit meinst - nach und nach zu sterben?«
»Na ja … ich weiß nicht. Man ist ganz allein im Dunkeln eingesperrt, ohne was zu essen, ohne was zu trinken, und nach und nach stirbt man …«
»Das muß entsetzlich sein«, sagte ich. »Qualvoll. So würde ich nicht sterben wollen, wenn’s sich irgendwie verhindern ließe.«
»Aber andererseits, Mister Aufziehvogel, ist nicht das ganze Leben letzten Endes so? Sind wir nicht alle irgendwo im Dunkeln eingesperrt, und man hat uns das Essen und Wasser weggenommen, und wir sterben allmählich nach und nach ab …?«
Ich lachte. »Du bist zu jung, um so …« - ich verwendete das englische Wort - »… pessimistic zu sein!«
»Pessi-was?«
» Pessimistic. Das bedeutet, wenn man von allem nur die negative Seite betrachtet.«
» Pessimistic … pessimistic … « Sie sagte sich das englische Wort immer wieder vor, und dann sah sie plötzlich mit flammenden Augen zu mir auf. »Ich bin erst sechzehn«, sagte sie, »und ich weiß nicht viel von der Welt, aber eines weiß ich mit Sicherheit: Wenn ich pessimistic bin, dann sind die Erwachsenen dieser Welt, die das nicht sind, ein Haufen Idioten.«
10
G LÜCKLICHES HÄNDCHEN
TOD IN DER BADEWANNE
BOTE MIT ANDENKEN
In unser jetziges Haus waren wir im Herbst des zweiten Jahres unserer Ehe gezogen. Die Wohnung in Koenji, in der wir bis dahin gewohnt hatten, sollte von Grund auf renoviert werden. Wir versuchten, eine andere billige und günstig gelegene Wohnung zu finden, aber bei unserem Budget war das nicht leicht. Als mein Onkel davon hörte, schlug er uns vor, ein Haus zu beziehen, das er in Setagaya besaß. Er hatte es in seiner Jugend gekauft und zehn Jahre lang darin gewohnt. Jetzt hätte er es gern abgerissen und dafür etwas Funktionelleres hingestellt, aber die Bauvorschriften verboten ihm, dort das Haus zu bauen, das ihm vorschwebte. Er wartete darauf, daß eine unter der Hand angekündigte Lockerung der Richtlinien in Kraft träte, aber wenn er das Haus so lange leerstehen ließ, würde er die Grundsteuer zahlen müssen, und wenn er es an fremde Leute vermietete, würde er möglicherweise Schwierigkeiten haben, sie im richtigen Augenblick wieder herauszubekommen. Von uns würde er nur soviel Miete verlangen, wie die Steuern betrugen, aber im Gegenzug sollten wir uns verpflichten, binnen drei Monaten auszuziehen, wenn es so weit wäre. Das war für uns kein Problem; die Sache mit den Steuern war uns zwar nicht ganz klar, aber die Aussicht, wenn auch nur für kurze Zeit, in einem richtigen Haus zu wohnen und dafür nicht mehr zu bezahlen, als die Miete unserer (dazu noch sehr billigen) Wohnung betragen hatte, war äußerst verlockend, und wir griffen sofort zu. Das Haus war von der nächsten Station der Odakyu-Linie zwar ziemlich weit entfernt, aber es lag in einer ruhigen Wohngegend, und es hatte einen eigenen kleinen Garten. Auch wenn es uns nicht gehörte, gab es uns, sobald wir eingezogen waren, das Gefühl, nun einen richtigen »Haushalt« zu haben.
Dieser Onkel, der jüngere Bruder meiner Mutter, stellte nie irgendwelche Ansprüche an uns. Er war wohl ein ziemlich cooler Typ, aber wie sehr er uns in Ruhe ließ, hatte schon fast etwas Unheimliches. Jedenfalls war er mein Lieblingsverwandter. Er hatte in Tokio das College besucht und nach dem Abschluß eine Stelle als Rundfunksprecher gefunden, aber als ihm nach zehn Jahren »die Arbeit zum Hals raushing«, verließ er den Sender und eröffnete eine Bar auf der Ginza. Es war ein kleines Lokal von fast klösterlicher Schmucklosigkeit, aber schon bald genoß es unter Kennern und Liebhabern authentischer Cocktails einen sehr guten Ruf, und binnen weniger Jahre leitete mein Onkel eine ganze Reihe von Bars und Restaurants. Jedes seiner Lokale lief ausgezeichnet: offensichtlich hatte er dieses bestimmte Etwas, das man als Geschäftsmann braucht. Als ich noch auf dem College war, fragte ich ihn einmal, wie es käme, daß jedes Lokal, das er eröffnete, ein solcher Erfolg wurde. Er konnte auf der Ginza in genau denselben Räumlichkeiten, in denen ein Restaurant Pleite gemacht hatte, ein neues Restaurant genau derselben Art eröffnen und damit hervorragende Geschäfte machen. Woran lag das? Er streckte mir beide Handflächen
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