Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
Vom Netzwerk:
die ich bisher kennengelernt hatte, hatte diese die merkwürdigste Atmosphäre.
    Wir stiegen wieder in die U-Bahn und fuhren zur Ginza. Da wir Hunger hatten und es ohnehin noch zu früh war, gingen wir erst einmal auf einen Hamburger ins Dairy Queen.
    »Sagen Sie mir mal, Mister Aufziehvogel«, sagte May Kasahara, »würden Sie ein Toupet tragen, wenn Sie eine Glatze hätten?«
    »Wohl kaum«, sagte ich. »Ich hab was gegen Dinge, die Zeit kosten und Umstände machen. Wenn mir die Haare ausfielen, würde ich mich wohl damit abfinden.«
    »Gut«, sagte sie und wischte sich mit einer Papierserviette den Ketchup vom Mund. »So gehört sich’s. Männer mit Glatze sehen nie so schlecht aus, wie sie sich einbilden. Für meine Begriffe ist das nichts, worüber man sich besonders aufzuregen bräuchte.«
    »Wohl kaum«, sagte ich.
     
    Die nächsten drei Stunden saßen wir neben dem Eingang der U-Bahn-Station am Wako-Gebäude und zählten die kahlköpfigen Männer, die an uns vorübergingen. Von oben auf die Köpfe hinunterzusehen, die die Treppe hinauf- und hinunterstiegen, war die zuverlässigste Methode, den jeweiligen Kahlheitsgrad zu ermitteln. May Kasahara sagte »A« oder »B« oder »C«, und ich trug es entsprechend ein. Es war offensichtlich, daß sie Übung darin hatte. Ohne ein einziges Mal zu zögern, zu stocken oder sich zu korrigieren, ordnete sie jeden Kopf rasch und präzise seiner Kategorie zu und sprach die Buchstaben leise und abgehackt aus, damit die Passanten nichts mitbekamen. Das erforderte natürlich jedesmal, wenn eine größere Gruppe von Glatzköpfen vorüberkam, ein Schnellfeuerstakkato von Buchstaben: »CCBABCAACCBBB.« Einmal blieb ein elegant aussehender alter Herr (der selbst schön volles, schneeweißes Haar hatte) stehen, um uns bei unserer Tätigkeit zuzusehen. »Entschuldigen Sie bitte«, sagte er nach einer Weile zu mir, »aber dürfte ich Sie vielleicht fragen, was Sie beide da tun?«
    »Eine Erhebung«, sagte ich.
    »Was für eine Art von Erhebung?« fragte er.
    »Eine soziologische«, sagte ich.
    »CACABC«, sagte May Kasahara.
    Der alte Herr schien nicht ganz überzeugt zu sein, aber er sah uns weiter zu, bis er es schließlich aufgab und sich entfernte.
    Als die Mitsukoshi-Uhr auf der anderen Straßenseite vier Uhr zeigte, beendeten wir unsere Erhebung und gingen wieder ins Dairy Queen, um einen Kaffee zu trinken. Es war keine anstrengende Arbeit gewesen, aber mein Nacken und meine Schultern fühlten sich seltsam verspannt an. Vielleicht kam das von der verdeckten Natur der Tätigkeit, von den Schuldgefühlen, die es mir bereitete, heimlich glatzköpfige Männer zu zählen. Während unserer ganzen Rückfahrt zum Geschäftsgebäude in Shimbashi ertappte ich mich immer wieder dabei, daß ich jeden Glatzkopf, den ich in der U-Bahn sah, automatisch Kategorie A, B oder C zuordnete, wovon mir auf die Dauer fast körperlich übel wurde. Ich versuchte, damit aufzuhören, aber mittlerweile hatte sich dieser Teil meines Gehirns verselbständige und arbeitete wie aufgezogen weiter. Wir gaben die ausgefüllten Bögen ab und erhielten unseren Lohn - einen ziemlich guten Lohn für den geringen Zeit- und Energieaufwand. Ich unterschrieb eine Quittung und steckte das Geld ein. May Kasahara und ich fuhren mit der U-Bahn nach Shinjuku und stiegen dort in die Linie nach Odakyu um, die uns nach Haus brachte. Die Nachmittags-Rush-hour fing gerade an. Das war seit längerer Zeit meine erste Fahrt in einem überfüllten Zug, aber meine Wehmut hielt sich in Grenzen. »Ganz guter Job, nicht?« fragte May Kasahara, als wir nebeneinander im Zug standen. »Leicht und nicht schlecht bezahlt.«
    »Wirklich ganz gut«, sagte ich, an einem Zitronenbonbon lutschend. »Kommen Sie nächstes Mal wieder mit? Wir könnten das einmal die Woche machen.«
    »Warum nicht?« sagte ich.
    »Wissen Sie was, Mister Aufziehvogel«, sagte May Kasahara nach einem kurzen Schweigen, als sei ihr plötzlich etwas eingefallen, »ich wette, wenn die Leute Angst haben, eine Glatze zu kriegen, liegt das bestimmt daran, daß sie das an den Tod erinnert. Ich meine, wenn das Haar anfängt, sich zu lichten, das muß doch ein Gefühl sein, als ob das Leben immer weniger würde … als hätte man einen Riesenschritt in Richtung Tod gemacht, auf den letzten großen Verschleiß zu.« Ich dachte eine Weile darüber nach. »So kann man das bestimmt auch sehen«, sagte ich.
    »Wissen Sie, Mister Aufziehvogel, manchmal frag ich mich, wie es sein muß,

Weitere Kostenlose Bücher