Mister Aufziehvogel
recht begeistern. Je mehr Zeit vergeht, desto weniger interessiert mich die Juristerei. Ich bekomme immer mehr das Gefühl, daß das einfach nicht die richtige Arbeit für mich ist.«
Kumiko sah mich im Spiegel an. Ich fuhr fort:
»Aber zu wissen, was ich nicht will , hilft mir nicht, mir darüber klar zu werden, was ich will. Wenn ich müßte, könnte ich so ziemlich alles tun. Aber ich habe keine Vorstellung, kein Bild von der einen Sache, die ich wirklich tun will. Das ist augenblicklich mein Problem. Ich kann das Bild nicht finden.«
»Na ja«, sagte sie, legte das Handtuch hin und wandte sich mir zu, »wenn du die Juristerei satt hast, dann laß sie doch. Vergiß einfach die Anwaltsprüfung. Mach dich nicht mit dem Gedanken verrückt, du müßtest unbedingt einen Job finden. Wenn du das Bild nicht finden kannst, dann wart eben, bis es sich von selbst einstellt. Wo ist das Problem?«
Ich nickte. »Ich wollte nur sicher sein, daß ich dir deutlich gemacht habe, was in mir vorgeht.«
»Gut«, sagte sie.
Ich ging in die Küche und spülte mein Glas aus. Sie kam aus dem Badezimmer nach und setzte sich an den Küchentisch.
»Rate mal, wer mich heute nachmittag angerufen hat«, sagte sie. »Mein Bruder.«
»Und?«
»Er überlegt sich, ob er nicht kandidieren soll. Das heißt, er ist schon so gut wie entschlossen.«
»Kandidieren?!« Das war ein solcher Schock für mich, daß ich im ersten Moment kaum ein Wort herausbrachte. »Du meinst … für das Parlament?«
»Genau. Sie hätten gern, daß er im Wahlkreis meines Onkels, in Niigata, kandidiert.«
»Ich dachte, es wäre schon ausgemacht, daß sein Sohn sein Nachfolger wird. Er sollte seinen Direktorposten bei Dentsu, oder was weiß ich, aufgeben und wieder nach Niigata ziehen.«
Sie fing an, sich die Ohren mit einem Q-Tip zu reinigen. »So war es geplant, aber mein Cousin will nicht mitspielen. Er hat seine Familie in Tokio, und er mag seine Arbeit. Er ist nicht bereit, einen so wichtigen Posten bei der größten Werbeagentur der Welt aufzugeben und wieder in die Pampa nach Niigata zu ziehen, nur um Abgeordneter zu werden. Am meisten ist seine Frau dagegen. Sie will nicht, daß er für seine Kandidatur die Familie opfert.«
Der ältere Bruder von Kumikos Vater saß schon seit vier oder fünf Legislaturperioden als Abgeordneter des Wahlkreises Niigata im Unterhaus. Ohne direkt zur politischen Prominenz zu gehören, konnte er doch auf eine recht ansehnliche Laufbahn zurückblicken und hatte es zu irgendeinem Zeitpunkt sogar zu einem kleineren Kabinettsposten gebracht. Jetzt machten es ihm sein fortgeschrittenes Alter und ein Herzleiden allerdings unmöglich, noch einmal zu kandidieren, und das bedeutete, daß jemand anders den Wahlkreis würde übernehmen müssen. Dieser Onkel hatte zwei Söhne, aber der ältere hatte nie vorgehabt, in die Politik zu gehen, und so war es eigentlich klar gewesen, daß der jüngere die Nachfolge antreten würde.
»Jetzt sind die Leute im Distrikt auf einmal ganz wild darauf, meinen Bruder aufzustellen. Sie wollen einen jungen, tüchtigen, dynamischen Kandidaten. Jemanden, der mehrere Legislaturperioden durchstehen kann und das Zeug hat, es in der Zentralregierung zu was zu bringen. Mein Bruder hat einen bekannten Namen, er wird die jungen Wähler gewinnen: Er ist perfekt. Sicher, er kann nicht mit den Einheimischen klönen, aber die Ortsgruppe ist einflußreich, die werden die Sache in die Hand nehmen. Und wenn er in Tokio wohnen bleiben will, ist das auch kein Problem. Er braucht sich lediglich während des Wahlkampfes dort sehen zu lassen.«
Es fiel mir schwer, mir Noboru Wataya als Parlamentsmitglied vorzustellen. »Was hältst du von der ganzen Sache?« fragte ich.
»Ich habe nichts mit ihm zu schaffen. Von mir aus kann er Abgeordneter oder Astronaut werden, wenn’s ihm Spaß macht.«
»Aber warum legt er dann Wert auf deinen Rat?«
»Mach dich nicht lächerlich«, sagte sie trocken. »Er hat mich nicht um Rat gefragt. Du weißt, daß er das niemals tun würde. Er wollte mich nur auf dem laufenden halten. Als Mitglied der Familie.«
»Ach so«, sagte ich. »Aber trotzdem, wenn er ins Parlament will, dürfte es da nicht ein Problem sein, daß er geschieden und alleinstehend ist?«
»Da bin ich überfragt«, sagte Kumiko. »Ich habe keine Ahnung von Politik oder Wahlen und dem ganzen Kram. Das interessiert mich alles nicht. Aber wie dem auch sei, ich bin ziemlich sicher, daß er nie wieder heiraten wird, wen auch
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