Mister Aufziehvogel
verhältnismäßig hoch und bekommt viel Sonne, der Garten ist groß. Aber Miyawaki hatte die düsteren Geschichten der Vorbesitzer gehört, also ließ er das ganze Ding abreißen, bis auf die Fundamente, und stellte ein völlig neues Haus hin. Er ließ sogar Shinto-Priester kommen und eine Reinigungszeremonie durchführen. Aber das war wohl nicht genug. Jedem, der da wohnt, passiert etwas Schlimmes. Es ist eben eine von diesen Ecken. Die gibt es einfach. Ich würd das Grundstück nicht mal geschenkt haben wollen.«
Nachdem ich im Supermarkt eingekauft hatte, legte ich mir meine Zutaten für das Abendessen zurecht. Dann holte ich die Wäsche herein, faltete sie ordentlich und räumte sie weg. Anschließend ging ich wieder in die Küche und kochte mir eine Kanne Kaffee. Es war ein schöner, ruhiger Tag, ohne irgendwelche Anrufe oder Besuche. Ich machte es mir auf dem Sofa bequem und las ein Buch. Es war niemand da, der mich bei meiner Lektüre gestört hätte. Ab und an schnarrte der Aufziehvogel hinter dem Haus. Es war fast das einzige Geräusch, das ich den ganzen Tag hörte.
Um vier klingelte jemand an der Tür. Es war der Briefträger. »Einschreiben«, sagte er und reichte mir einen dicken Umschlag. Ich nahm ihn und stempelte meinen Namen auf den Einlieferungsschein.
Es war kein gewöhnlicher Umschlag. Er bestand aus altmodischem, schwerem Reispapier, und jemand hatte sich die Mühe gemacht, meinen Namen und meine Adresse mit dem Pinsel in kräftigen schwarzen Schriftzeichen aufzumalen. Als Absender war auf der Rückseite ein gewisser Tokutaro Mamiya angegeben, wohnhaft irgendwo in der Präfektur Hiroshima. Name wie Adresse waren mir völlig unbekannt. Nach der Pinselführung zu urteilen, mußte dieser Tokutaro Mamiya schon ein älterer Mann sein. Heutzutage kann niemand mehr so schreiben.
Ich setzte mich auf das Sofa und schnitt den Umschlag mit der Schere auf. Der Brief war nicht minder altmodisch als der Umschlag: auf geglättetes Reispapier in einer Handschrift gepinselt, deren kursiver Duktus einen kultivierten Schreiber verriet. Da mir selbst diese Kultur abging, konnte ich ihn kaum entziffern. Der Satzbau entsprach in seiner extremen Förmlichkeit durchaus der kalligraphischen Form, was die Sache noch weiter komplizierte, aber mit einiger Zeit und Geduld gelang es mir, den ungefähren Inhalt zu ermitteln. Der alte Herr Honda, erfuhr ich, der Wahrsager, den Kumiko und ich vor so langer Zeit regelmäßig besucht hatten, war zwei Wochen zuvor in seinem Haus in Meguro an einem Herzschlag gestorben. Da er allein gewohnt hatte, war bei seinem Ableben niemand zugegen gewesen, aber die Ärzte glaubten, er sei rasch und ohne viel Schmerzen gestorben - vielleicht das einzig Erfreuliche an dieser traurigen Geschichte. Die Zugehfrau hatte ihn am Morgen gefunden, vornübergesackt auf den niedrigen Tisch über seinem Fußwärmer. Der Schreiber des Briefes, Tokutaro Mamiya, war als Oberleutnant in der Mandschurei stationiert gewesen und hatte, wie es das Schicksal wollte, die Gefahren des Krieges mit Korporal Oishi Honda geteilt. Jetzt hatte es Mamiya entsprechend dem dringenden Wunsch des Verblichenen auf sich genommen, die Andenken zu verteilen. Der Verblichene hatte diesbezüglich äußerst minuziöse schriftliche Anweisungen hinterlassen. »Die detaillierte und sorgfältig durchdachte letztwillige Verfügung läßt den Schluß zu, daß Herr Honda sein unmittelbar bevorstehendes Ableben vorausgeahnt hat. Sie erklärt ausdrücklich, daß der Erblasser es sich als sehr große Freude anrechnen würde, wenn Sie, Herr Toru Okada, die Güte hätten, einen bestimmten Gegenstand als Andenken an ihn anzunehmen. Ich kann mir vorstellen, wie stark Sie, Herr Okada, durch anderweitige Geschäfte beansprucht sind, aber als alter Waffengefährte des Dahingegangenen, dem selbst voraussichtlich nur noch wenige Jahre zu leben verbleiben, kann ich Ihnen versichern, daß Sie mir keine größere Freude bereiten könnten als durch die gütige Entgegennahme besagten Gegenstandes als eine kleine Erinnerung an den verstorbenen Herrn Honda.« Der Brief schloß mit der Tokioter Adresse, an der sich Herr Mamiya gegenwärtig aufhielt: c/o Mamiya in Hongo 2-chome, Stadtteil Bunkyo. Ich vermutete, daß er im Haus eines Verwandten abgestiegen war.
Meine Antwort schrieb ich am Küchentisch. Ich hatte vorgehabt, mich kurz und schlicht zu fassen, aber kaum saß ich vor der Postkarte, bekam ich keinen einzigen normalen Satz zustande. »Ich
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