Mister Aufziehvogel
hatte das Glück, den verstorbenen Herrn Honda zu kennen, und habe aus unserer kurzen Bekanntschaft großen Gewinn gezogen. Die Nachricht von seinem Ableben ruft in mir Erinnerungen an jene Zeit zurück. Uns trennte natürlich ein erheblicher Altersunterschied, und unsere Beziehung dauerte nur ein einziges Jahr, dennoch habe ich stets das Gefühl gehabt, daß der Verstorbene etwas an sich hatte, was die Menschen zutiefst berührte. Um ganz ehrlich zu sein, hätte ich nie zu vermuten gewagt, daß Herr Honda mich in seinem Testament ausdrücklich als Empfänger eines Andenkens erwähnen würde, noch bin ich mir sicher, ob ich überhaupt berechtigt bin, etwas aus seinem Besitz anzunehmen, doch wenn dies sein Wunsch war, werde ich ihm gewiß mit allem gebührenden Respekt willfahren. In Erwartung Ihrer geschätzten Antwort …« Als ich die Karte im nächsten Briefkasten einwarf, ertappte ich mich dabei, daß ich das Gedicht des alten Herrn Honda vor mich hinmurmelte: »Sterben ist der einzige Weg / Zu deiner Befreiung: / Nomonhan.«
Es war fast zehn, als Kumiko von der Arbeit heimkam. Sie hatte vor sechs angerufen, um zu sagen, daß es heute wieder spät werden würde: ich sollte ohne sie essen, und sie würde sich in der Stadt eine Kleinigkeit holen. Na gut, sagte ich und machte mir etwas Einfaches zurecht. Wieder blieb ich allein zu Haus und las ein Buch. Als sie hereinkam, sagte Kumiko, sie hätte Lust auf einen Schluck Bier. Wir teilten uns eine mittelgroße Flasche. Kumiko sah abgespannt aus. Die Ellenbogen auf dem Küchentisch, stützte sie das Kinn in die Hände und überließ es mir, die ganze Unterhaltung zu bestreiten. Sie schien in Gedanken zu sein. Ich erzählte ihr, daß der alte Herr Honda gestorben war.
»Ach, wirklich?« sagte sie mit einem Seufzer. »Na ja, er kam langsam wirklich in die Jahre, und er war fast völlig taub.«
Als ich allerdings sagte, daß er mir ein Andenken hinterlassen hatte, schrak sie zusammen, als sei plötzlich etwas vom Himmel gefallen. »Dir?!« rief sie aus und runzelte die Augenbrauen.
»Ja. Schon komisch, nicht?«
»Er muß dich gemocht haben.«
»Wie sollte das möglich sein? Ich hab mich doch nie richtig mit ihm unterhalten«, sagte ich. »Zumindest hab ich nie viel gesagt. Und selbst, wenn ich’s getan hätte, er hörte ja doch nichts. Wir haben uns einmal im Monat da hingesetzt und uns seine Geschichten angehört. Und das einzige, wovon er uns je erzählt hat, war die Schlacht von Nomonhan: wie sie Molotowcocktails geworfen haben und welcher Panzer brannte und welcher nicht und lauter solche Sachen.«
»Frag mich nicht«, sagte Kumiko. »Er muß irgendwas an dir gefunden haben. Ich verstehe solche Leute nicht, was in deren Kopf vor sich geht.« Danach verfiel sie wieder in Schweigen. Es war ein angestrengtes Schweigen. Ich warf einen Blick auf den Wandkalender. Bis zur ihrer Periode war’s noch einige Zeit hin. Ich fragte mich, ob in der Redaktion etwas Unerfreuliches passiert sein mochte.
»Zu hart gearbeitet?« fragte ich sie.
»Ein bißchen«, sagte Kumiko, nachdem sie einen Schluck Bier genommen hatte, und starrte auf das, was in ihrem Glas verblieb. Ihre Stimme hatte einen fast herausfordernden Unterton, »Tut mir leid, daß es so spät geworden ist, aber du weißt, wie es in der Redaktion zugeht, wenn sich die Arbeit häuft. Und es ist ja auch nicht so, daß das jeden zweiten Tag passieren würde. Ich schaffe es immerhin, weniger Überstunden aufgebrummt zu bekommen als die meisten anderen. Sie wissen, daß ich einen Mann habe, der zu Haus auf mich wartet.«
Ich nickte. »Ich mach dir keine Vorwürfe«, sagte ich. »Ich weiß ja, daß du manchmal länger arbeiten mußt. Ich mach mir nur Sorgen, daß du dir vielleicht zuviel aufhalst.«
Sie blieb lange unter der Dusche. Ich trank mein Bier und blätterte eine Zeitschrift durch, die sie mitgebracht hatte.
Ich steckte die Hand in die Hosentasche und fand dort den Lohn meines kleinen Teilzeitjobs von neulich. Ich hatte die Scheine noch nicht einmal aus dem Umschlag gezogen. Noch eine Unterlassung: Kumiko nicht von diesem Job erzählt zu haben. Nicht, daß ich es vor ihr hätte verheimlichen wollen, aber ich hatte die Gelegenheit, es beiläufig zu erwähnen, verstreichen lassen, und eine andere hatte sich nicht ergeben. Je mehr Zeit verging, desto schwieriger kam es mir - aus welchen Gründen auch immer - vor, davon anzufangen. Ich hätte nur zu sagen brauchen: »Ich hab da so ein komisches
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