Mister Aufziehvogel
immer. Er hätte überhaupt nie heiraten dürfen. Es ist nicht das, was er vom Leben will. Er ist auf etwas ganz anderes aus, etwas völlig Verschiedenes von dem, was du oder ich wollen. Das weiß ich sicher.«
»Ach wirklich?«
Kumiko wickelte zwei gebrauchte Q-Tips in ein Reinigungstuch und warf sie in den Papierkorb. Dann hob sie das Gesicht und sah mich an. »Ich habe ihn einmal masturbieren sehen. Ich hab eine Tür aufgemacht, und da war er.«
»Na und? Jeder masturbiert«, sagte ich.
»Nein, du verstehst nicht«, sagte sie. Dann seufzte sie. »Das war vielleicht zwei Jahre nach dem Tod meiner Schwester. Er ging wahrscheinlich aufs College, und ich dürfte in der Dritten gewesen sein. Meine Mutter hatte hin- und hergeschwankt, ob sie die Sachen meiner Schwester verschenken oder aufbewahren sollte, und am Ende hatte sie beschlossen, sie zu behalten, und wohl gedacht, ich könnte sie später tragen. Sie hatte die Sachen in einen Karton gepackt und in einen Schrank geräumt. Mein Bruder hatte sie herausgeholt und roch daran und machte es sich dabei.«
Ich schwieg.
»Ich war damals bloß ein kleines Mädchen. Ich wußte nichts von Sex. Ich hatte wirklich keine Ahnung, was er da tat, aber ich spürte irgendwie, daß es etwas Unanständiges war, etwas, was ich eigentlich nicht hätte sehen dürfen, etwas viel Tieferes, als es nach außen hin aussah.« Kumiko schüttelte den Kopf. »Weiß Noboru Wataya, daß du ihn damals gesehen hast?«
»Natürlich. Wir haben uns direkt in die Augen gesehen.« Ich nickte. »Und was ist mit den Sachen deiner Schwester?« fragte ich. »Hast du sie später getragen, als du größer warst?«
»Machst du Witze?« sagte sie.
»Du glaubst also, daß er in deine Schwester verliebt war?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Kumiko. »Ich bin mir nicht sicher, ob er ein sexuelles Interesse an ihr hatte, aber irgend etwas hatte er bestimmt, und ich hab so eine Ahnung, daß er es nie geschafft hat, von diesem Etwas loszukommen. Das meine ich, wenn ich sage, daß er überhaupt nie hätte heiraten dürfen.« Kumiko verstummte. Lange sprach keiner von uns beiden ein Wort. Schließlich sagte sie: »Insofern könnte ich mir vorstellen, daß er irgendwelche ernsten psychischen Probleme hat. Natürlich haben wir alle irgendwo unsere größeren oder kleineren Macken, aber seine sind ein ganzes Stück schwerwiegender als alles, was du oder ich in der Hinsicht jemals haben könnten. Sie sitzen ein ganzes Stück tiefer und sind weit hartnäckiger. Und er wird nicht zulassen, daß irgend jemand diese Narben oder Schwächen, oder was immer es ist, jemals zu sehen bekommt. Niemals. Verstehst du, was ich meine? Diese Parlamentswahl - sie macht mir Sorgen.«
»Macht dir Sorgen? Wieso denn das?«
»Ich weiß auch nicht. Sie tut’s einfach«, sagte sie. »Was soll’s, ich bin müde. Ich kann heut nicht mehr denken. Gehen wir schlafen.«
Während ich mir die Zähne putzte, musterte ich mein Gesicht im Badezimmerspiegel. In den mittlerweile mehr als zwei Monaten seit meiner Kündigung hatte ich mich nur selten in die »Außenwelt« hinausbegeben. Ich war immer nur zwischen unseren paar Geschäften, dem Schwimmbad und unserem Haus hin und her gependelt. Abgesehen von der Ginza und dem Hotel in Shinagawa war der fernste Punkt, zu dem ich mich von zu Hause aus begeben hatte, die Reinigung am Bahnhof gewesen. Und während dieser ganzen Zeit hatte ich kaum jemanden gesehen. Außer Kumiko waren die einzigen Leute, die ich in diesen zwei Monaten eigentlich »gesehen« hatte, Malta und Kreta Kano und May Kasahara. Es war eine enge Welt, eine Welt, die stillstand. Aber je enger diese meine Welt wurde und je deutlicher sie von Stillstand zeugte, desto mehr schien sie von Dingen und Menschen überzufließen, die man nur als seltsam bezeichnen konnte. Sie waren, wie es schien, die ganze Zeit dagewesen und hatten im Schatten darauf gewartet, daß ich aufhörte, mich zu bewegen. Und jedesmal, wenn der Aufziehvogel in meinen Garten kam, um die Welt aufzuziehen, versank sie tiefer in Chaos. Ich spülte mir den Mund aus und betrachtete mein Gesicht noch eine Weile länger im Spiegel.
Ich kann das Bild nicht finden, sagte ich zu mir. Ich bin dreißig, ich stehe still, und ich kann das Bild nicht finden. Als ich ins Schlafzimmer kam, war Kumiko schon eingeschlafen.
11
L EUTNANT MAMIYA TRITT AUF
WAS AUS DEM WARMEN SCHLAMM KAM
EAU DE TOILETTE
Drei Tage später rief Tokutaro Mamiya an. Morgens um halb acht. Ich saß
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