Mister Perfekt
Mahl auf dem Tisch und ließ sich dahinter nieder. Sie nahm einen kleinen Bissen von ihrem Sandwich und kaute anmutig darauf herum, tupfte dann ihren Mund ab und verzehrte einen ebenso kleinen Löffel voll Suppe, wonach sie wieder den Mund abtupfte. Hypnotisiert schaute Jaine ihr zu. Bestimmt orientierte Leah Street sich mit ihren Tischmanieren an den Menschen im Zeitalter von Königin Victoria. Jaine wusste sich zwar durchaus zu benehmen, doch neben Leah kam sie sich wie eine Barbarin vor.
Nach dem zweiten Bissen sagte Leah: »Ich nehme an, Sie haben gestern diese widerwärtige Hauszeitung gelesen.«
Widerwärtig war eines von Leahs Lieblingsworten, das war Jaine schon aufgefallen.
»Ich nehme an, Sie meinen diesen einen Artikel«, antwortete sie, weil es sinnlos war, lange um den heißen Brei herumzureden. »Ich habe einen Blick darauf geworfen. Ich habe ihn nicht ganz gelesen.«
»Solche Menschen geben mir das Gefühl, mich schämen zu müssen, dass ich eine Frau bin.«
Also, das ging doch ein bisschen zu weit. Jaine war klar, dass sie das Thema auf sich beruhen lassen sollte, denn Leah blieb einfach Leah, daran würde niemand etwas ändern. Aber ein winziger Dämon in ihrem Inneren - also gut, derselbe Dämon, der sie jedes Mal dazu trieb, ihre Klappe aufzureißen, wenn es eigentlich ratsam war, sie zu halten - ließ sie sagen:
»Wieso das denn? Ich fand sie nur ehrlich.«
Leah legte ihr Sandwich ab und sah Jaine indigniert an.
»Ehrlich? Für mich klangen diese Frauen wie Straßenmädchen. Sie wollen nichts von einem Mann als Geld und einen großen...großen...«
»Penis«, ergänzte Jaine, da Leah das Wort offenbar nicht einfallen wollte. »Und ich bin nicht der Meinung, dass sie nichts anderes wollten. Ich meine mich zu erinnern, etwas von Treue und Zuverlässigkeit gelesen zu haben, von Humor -«
Leah tat den Einwand mit einem Handwedeln ab. »Wenn Sie das glauben möchten, bitte sehr, aber im Grunde drehte sich der Artikel ausschließlich um Sex und Geld. Das können Sie doch nicht leugnen. Außerdem war er gehässig und gemein, denn stellen Sie sich doch nur vor, wie sich Männer fühlen müssen, die nicht viel Geld haben und keinen großen... Dings-«
»Penis«, fiel Jaine ihr ins Wort. »Der Dings heißt Penis.«
Leah presste die Lippen aufeinander. »Über manche Dinge sollte man nicht in der Öffentlichkeit sprechen, aber mir ist schon aufgefallen, dass Sie gern unflätige Ausdrücke gebrauchen.«
»Das tue ich nicht!«, widersprach Jaine aufgebracht. »Zugegeben, manchmal fluche ich, aber ich gebe mir Mühe, damit aufzuhören, und Penis ist kein unflätiger Ausdruck; es ist die korrekte Bezeichnung für einen Körperteil, genau wie ›Bein‹. Oder haben Sie auch was gegen Beine?«
Leah packte die Tischkante mit beiden Händen und drückte sie so fest, dass ihre Knöchel weiß wurden. Sie atmete tief durch.
»Wie schon gesagt, stellen Sie sich nur vor, was diese Männer jetzt wohl empfinden. Sie müssen doch glauben, sie seien nicht gut genug, sie seien irgendwie minderwertig.«
»Manche von ihnen sind es auch«, grummelte Jaine. Sie musste es wissen. Schließlich war sie mit drei Minderwertigen verlobt gewesen, und das bezog sich nicht auf die jeweiligen Genitalien.
»Niemand sollte so etwas empfinden müssen«, belehrte Leah sie mit erhobener Stimme. Sie biss erneut von ihrem Sandwich ab, und Jaine erkannte verblüfft, dass die Hände der Frau ihr gegenüber bebten. Sie regte sich wirklich auf.
»Also, ich glaube, die meisten, die den Artikel gelesen haben, fanden ihn witzig«, meinte sie versöhnlich. »Er war doch ganz offensichtlich als Satire gemeint.«
»Ich empfinde da ganz anders. Ich fand ihn widerlich, primitiv und gemein.«
So viel zur Versöhnung. »Ich nicht«, meinte Jaine nur, sammelte ihren Müll zusammen und entsorgte ihn in einem Abfalleimer.
»Ich glaube, die Menschen sehen immer das, was sie zu sehen erwarten. Jemand, der primitiv ist, geht davon aus, dass alle anderen genauso primitiv sind, genau wie Menschen mit schmutziger Fantasie überall nur Schmutz sehen.«
Leah wurde erst weiß, dann rot. »Wollen Sie damit sagen, ich hätte eine schmutzige Fantasie?«
»Wem der Schuh passt, der zieht ihn sich an.« Jaine floh in ihr Büro zurück, bevor ihre kleine Meinungsverschiedenheit in einen offenen Krieg ausartete. Was war in letzter Zeit eigentlich mit ihr los? Erst ihr Nachbar, jetzt Leah. Sie schien mit niemandem mehr auszukommen, nicht mal mit
Weitere Kostenlose Bücher