Mit 15 wachsen einem Flügel
schlimme Nachricht
Am nächsten Tag schien der Winter zurückkehren zu wollen. Ein eiskalter Wind fegte trockene Blätter und Wolken aus Staub und Graupelschnee vor sich her, als Katja die Straße zur Ballettschule Künzel hinauflief. Sie zog die Kapuze ihres Parka so weit es ging nach vorne und hielt sie über Mund und Nase zusammen.
Petra hatte es gut! Die hatte sich, wie sie es neuerdings oft tat, vor dem Training gedrückt und lag mit Schreibblock und Stift bewaffnet zu Hause auf der Couch, um den täglichen Brief an ihren Stefan zu schreiben. Oder sie entwarf eine neue Einrichtung für die Zimmer ihrer Reiterpension, von der sie Tag und Nacht träumte. Seit Petra ihrer Mutter klargemacht hatte, daß sie nicht beabsichtigte, Tänzerin oder Schauspielerin zu werden, und ihre Mutter schweren Herzens Abschied von dem Traum genommen hatte, aus Petra einen großen Star zu machen, nahm es Petra mit dem Ballett-Training nicht mehr so genau.
Einerseits freute sich Katja für die Freundin, daß sie den Zwang, ständig Höchstleistungen zu vollbringen, abgeschüttelt hatte und endlich damit begann, Dinge zu tun, die ihr Spaß machten. Aber andererseits vermißte sie Petra sehr, wenn sie allein zum Training gehen mußte.
Katja zog die schwere Eingangstür des alten Mietshauses auf. Schon als sie die Treppe hinunterstieg, spürte sie, daß etwas Außerordentliches geschehen sein mußte. Auf dem Flur war es still, und auch in der Garderobe war noch niemand. Merkwürdig! Aber hinten im Aufenthaltsraum hörte sie leise Stimmen. Sie klangen aufgeregt und ängstlich. Katja lief nach hinten und öffnete die Tür.
Dort saßen sie — auf Stühlen, Tischen und auf dem Fußboden, Mädchen aller Altersklassen, in Trikots oder in ihrer Straßenkleidung, wie sie gerade gekommen waren, in der Mitte Elfie Krüger, Frau Künzels Assistentin.
„Was ist los? Ihr macht Gesichter, als wäret ihr auf einer Beerdigung!“ fragte Katja beunruhigt.
Einen Augenblick herrschte bedrücktes Schweigen. Dann sah Elfie Katja an und sagte ernst: „Frau Künzel ist schwer verunglückt. Sie lebt — aber sie wird wochenlang — vielleicht Monate — im Krankenhaus bleiben müssen.“
Katja wurde blaß. Sie liebte und bewunderte die stille, gütige Ballettlehrerin wie eine zweite Mutter.
„Wie — wann — ist das passiert?“ stammelte sie.
„Vor zwei Stunden. Sie wollte mit dem Auto schnell in die Stadt fahren, um in der Mittagspause ein paar Besorgungen zu machen. Ein anderer Wagen hat das Rotlicht überfahren und ist mit ganzer Wucht in sie hineingefahren. Das Auto ist nur noch ein Schrotthaufen. Ein Wunder, daß sie lebt!“
„Mein Gott! Und nun?“
„Deshalb sitzen wir hier und zerbrechen uns die Köpfe. Ohne Frau Künzel kann der Schulbetrieb nicht weitergehen. Aber wenn die Schule geschlossen wird - wer soll dann die Krankenhaus- und Operationskosten tragen? Frau Künzel hat zwar eine Versicherung, aber sie reicht bei weitem nicht aus. Die Schule ist ihre Existenzgrundlage.“
„Ja“, mischte sich eines der älteren Mädchen ein, „wenn die Schule jetzt monatelang geschlossen bleibt, werden sich alle Schüler nach einer anderen Schule umsehen, und wenn Frau Künzel schließlich wiederkommt, ist sie ihre Schüler los!“
„Ich würde sie nicht im Stich lassen!“ sagte Katja empört. „Natürlich nicht, ich auch nicht. Aber denk doch mal an die Mutter-und-Kind-Kurse, die Gymnastik für Berufstätige — und die ganzen Anfängerkurse. Meinst du wirklich, die würden aus Rücksicht auf Frau Künzels Krankheit monatelang warten, bis sie wieder zum Unterricht kommen können?“
„Gerade, bevor du kamst“, Elfie schaute in die Runde, „hatte ich einen Vorschlag gemacht. Nämlich, was wir tun könnten, die Schule ohne Frau Künzel weiterzuführen. Mit Rico habe ich schon telefoniert. Er wäre bereit, ein paar zusätzliche Stunden zu übernehmen. Aber das reicht natürlich nicht aus. Wir brauchen noch eine vollausgebildete Lehrkraft für die wichtigsten Stunden. Und — ich brauche ein paar Assistentinnen.“
Katja hob die Hand.
„Wenn du mich brauchen kannst — hier hast du eine. Und ich bin sicher, Petra macht auch mit.“
„Das habe ich gehofft.“
Drei der größeren Mädchen meldeten sich ebenfalls.
„Ulrike, Inga und Constanze. Damit hätte ich schon fünf. Jetzt brauchen wir nur noch eine Lehrerin...“
„Oder einen Lehrer. Bist du schon mal die Heldengalerie durchgegangen?“ fragte die blonde Ulrike vom
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