Mit 50 hat man noch Träume
»Sieh, was sie
uns wieder geschrieben haben.«
»Die Verbandsgemeinde?«
Lao Wang
nickte und nahm den obersten Brief zur Hand. »Der Gemeinderat hat beschlossen, dass
wir eine höhere Pacht für den Parkplatz zahlen sollen.«
»Aber er
gehört doch mehr oder weniger zum Hotel und wir nutzen ihn schon seit Jahren«, wandte
Mei Ling empört ein.
»Er gehört
der Gemeinde, nicht uns. Wir haben ihn gepachtet, als wir das Abkommen mit dem Reiseveranstalter
geschlossen haben, doch auch das ist kein Grund, der gegen eine Pachterhöhung spricht.«
»Nein, du
hast recht.« Mei Ling strich sich nachdenklich über ihr halblanges, schwarzes Haar,
das seidig glänzte. Ihr Mund fühlte sich trocken an, als sie fragte: »Wie viel wollen
sie haben?«
»Pro Stellplatz
200 Euro statt 100 Euro.«
Ihre Augen
weiteten sich. »200 Euro? Eine Erhöhung um 100 Prozent? Und die Begründung?«
»Es gibt
keine. Warte mal, hier heißt es …« Lao Wang nahm den Brief zur Hand. »Infolge der
gestiegenen Allgemeinkosten müssen wir den Pachtzins leider zum 01.07. von 100 Euro
auf 200 Euro pro Stellplatz erhöhen.« Er legte das Schreiben zurück auf den Tisch,
und Mei Ling bemerkte, dass seine Hände leicht zitterten.
»Das kann
doch nicht sein.«
»Doch, so
ist es.« Langsam ging Lao Wang hinüber zur Wand und setzte sich schwerfällig auf
einen Stuhl. Das Fenster war geöffnet, und er beobachtete, wie ein leichter Windhauch
die Papiere auf dem kleinen Tisch bewegte. »Ich habe bereits mit deinen Brüdern
Wang Yi und Wang San gesprochen. Es bleibt uns nichts anderes übrig, wir müssen
zahlen.«
Mei Ling
kniff die Augen zusammen. »Aber warum? Bei zehn Stellplätzen sind das 2.000 Euro
im Monat«, sagte sie und fügte hinzu: »Das ist Wucher.« Sie lehnte sich an den Tisch
und sah ihren Vater nachdenklich an. »Wir sollten uns das nicht gefallen lassen.«
Lao Wang
betrachtete seine Tochter eine Weile schweigend, doch schließlich entschied er bestimmt:
»Wir werden zahlen.«
»Aber Baba ,
die Forderung ist völlig überhöht«, versuchte Mei Ling es noch einmal.
Über Lao
Wangs Lippen kam ein Seufzer. »Mei Ling, hör auf damit. Es bleibt uns nichts anderes
übrig.«
»Wir könnten
uns wehren.«
»So? Denkst
du?« Lao Wang ging zum Fenster und sah hinaus in den Garten, wo seine Singvögel
in der Voliere herumturnten. »Wenn wir nicht zahlen, verpachten sie den Parkplatz
an jemand anderen, die Plätze hier sind knapp, das weißt du, und dann stehen wir
dumm da. Wo sollen die Reisebusse hin? Und die Gäste, die mit dem eigenen Auto zu
uns kommen?«
Mei Ling
seufzte. Nach einem Moment sagte sie leise: »Sie wissen genau, dass wir auf diesen
Platz hier am Hotel angewiesen sind.«
Lao Wang
nickte bedächtig. »Ich habe lange mit deinen Brüdern darüber diskutiert, und wir
glauben, dass der Veranstalter sich bald ein anderes Ziel suchen wird, wenn die
Busse mehr als einen Kilometer vom Hotel entfernt parken müssen. Deutsche Städtchen,
die für Touristen aus China interessant sind, gibt es genug. Ob sie unsere Landsleute
in einen Ort an der Ahr oder an die Mosel bringen, ist ihnen relativ egal.«
In diesem
Moment erkannte Mei Ling, was die Gemeinde wirklich bezweckte. »Sie wollen uns hier
wegekeln. Wir passen nicht ins Bild, wir gehören einfach nicht dazu. Das ist
der Grund .«
»Wir werden
nie dazugehören«, flüsterte Lao Wang und sah wieder hinaus aus dem Fenster.
Mei Ling
tat es weh, ihren Vater so müde zu sehen. Sie erinnerte sich daran, dass er kürzlich
erst wieder davon gesprochen hatte, in der alten Heimat sterben zu wollen, nirgendwo
sonst.
»Noch gehören
wir nicht dazu, aber das kann sich ändern«, sagte ihr Bruder Wang San, der unbemerkt
ins Zimmer gekommen war. Sie und ihr Vater drehten sich zu ihm um.
»Sie haben
die Rechnung ohne den Wirt gemacht, im wahrsten Sinne des Wortes.« Wang San trat
näher und sah seine Schwester an. »Du wirst sehen, die Leute hier werden sich schon
noch an uns gewöhnen.«
Mei Ling
fand, dass sein Versprechen in gewisser Weise wie eine Drohung klang. Auch ihr Vater
stutzte. Langsam ging er zu seinem Arbeitstisch zurück, setzte sich und griff nach
einem Pinsel. Dann sah er seinen Sohn und seine Tochter lange an.
»Eins ist
gewiss«, sagte er bedächtig. » Auch der Adler fliegt nicht höher als die Sonne. «
14
»Das ist nicht dein Ernst!« Bea
und Caro ließen die Spargelmesser sinken und sahen Ulrike entgeistert an.
»Wiederhol
das bitte noch einmal.«
Ulrike
Weitere Kostenlose Bücher