Mit anderen Augen (German Edition)
nachmacht, um dann den Schlüssel ins Zündschloss zu stecken. „Und jetzt?“
„Jetzt startest du den Wagen und fährst.“
„Zachary...“
„Wenn ich angeschossen oder anderweitig verletzt werde und wir flüchten müssen, wer soll dann den Wagen fahren, wenn nicht du?“
Die Frage ist nicht fair, aber sie entspricht der Wahrheit und er weiß es. Er muss Autofahren lernen, also werde ich es ihm beibringen. Die leeren Straßen der Nacht eignen sich dafür ohnehin um einiges besser, als der Berufsverkehr am Morgen. Es wird so zwar länger dauern, bis wir Philadelphia erreichen, aber wen kümmert das schon? Eine Flucht hat im Allgemeinen keinen festgelegten Zeitplan.
„Hör' auf damit.“
Jannik fühlt sich sichtlich unwohl, aber das kann und will ich nicht ändern. „Ich bringe es dir bei. Und zwar jetzt. Die Straße ist frei, es ist mitten in der Nacht und Straßengräben werden wir vermeiden. Also starte den Wagen.“
Eine knappe Stunde später hat er sich soweit beruhigt, dass er sogar eine Vollbremsung machen kann, ohne dabei vor Angst die Augen zu schließen. Wir sind ein gutes Stück näher an Philadelphia und auf den Nebenstraßen, über die ich ihn lotse, sind uns bisher nur wenige Autos entgegengekommen. Navigationsgeräte mögen ihr Geld wert sein, aber es geht nichts über die guten alten Karten, die man an jeder Tankstelle bekommt, genauso wie Tipps für Schleichwege, die allgemein nur die hiesigen Einheimischen kennen. Uns haben sie freie Wege und Jannik seine erste Fahrstunde beschert. Getankt hat er mittlerweile auch und danach eine kleine Flasche Alkohol leergemacht.
Ich habe ihm den Whiskey aufgedrängt, weil Jannik vor Nervosität die Hände zitterten. Er hat den ersten Schluck mit einem Hustenanfall bezahlt, aber danach ging es ihm etwas besser. Kater Bob hat dazu seinen Teil beigetragen und die restliche Fahrt habe ich das Lenkrad wieder übernommen. Ich werde Jannik garantiert nicht angetrunken und mit gestiegenem Fieber fahren lassen. Außerdem werden wir, wenn der alte Mann an der Tankstelle vor 3 Meilen Recht hatte, gleich auf ein Motel treffen, wo wir ein paar Stunden bleiben werden. Jannik braucht ein Bett und seine Medikamente, und ich brauche Zeit, mir zu überlegen, wie es mit uns weitergehen soll.
Wir können uns in Philadelphia nicht lange aufhalten, das ist mir zu gefährlich. New York City liegt in der Nähe, allerdings sind Großstädte nicht die erste Wahl, wenn es um eine Flucht geht. Es ist schwer dort unterzutauchen. Obwohl viele Menschen das denken, Metropolen wie New York sind definitiv der letzte Ort, den man wählen sollte, um zu verschwinden. Dort fällt man auf. Wer nicht dazugehört, neu ist oder sich unwohl fühlt, kann sich genauso gut eine Zielscheibe auf die Stirn malen. Philadelphia ist mit seinen rund 2 Millionen Einwohnern die Grenze des Ertragbaren für mich. Ich muss einen Ort kennen, um für unsere Sicherheit sorgen zu können. Dafür ist New York City gänzlich ungeeignet.
Jannik ist eingeschlafen, als das Hotelschild an der Straße auftaucht. Ich parke den Wagen und lasse ihn im Auto sitzen, während ich uns ein Zimmer besorge und den neugierigen Blick des alten Nachtportiers ignoriere. Der Mann wird sich ohnehin seinen Teil denken, wenn ich Jannik ins Bett trage, also kann ich mir jedes Wort sparen. Was ich auch gegenüber Bob tue, der wütend knurrt, als ich die Katzenbox neben der Tür abstelle, um Jannik zu holen. Er rührt sich nicht mal. Schläft tief und fest weiter, als ich ihn aus dem Auto hebe. Ich werde ihn schlafen lassen. Er kann seine Medikamente später nehmen.
Als er im Hotelbett liegt, betrachte ich ihn kopfschüttelnd. Wo hat der Junge bloß die letzten einundzwanzig Jahre gelebt? In einer Blase? Er raucht nicht, kann nicht Autofahren, eine Tankstelle hatte er bis vorhin offenbar noch nie von innen gesehen und Bargeld kennt er auch kaum. Bei seinen Essenslieferanten hat er mit Karte bezahlt oder anschreiben lassen und ich frage mich, wie alt diese Turnschuhe sind, die ich ihm eben ausgezogen habe.
Jannik beherrscht vielleicht seinen Computer und er liebt seinen Kater, aber vom echten Leben hat er keine Ahnung.
Im Grunde genommen sind wir gar nicht so verschieden. Mein Vater hat meine Mutter umgebracht, seine Eltern waren nie da. Ich bin im Heim und auf der Straße groß geworden, er zwischen jeder Menge Geld, Kindermädchen und Haushälterinnen. Auf den ersten Blick verschiedene Ansätze, aber ansonsten war Janniks
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