Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge
scheißwurscht.«
Unmittelbar bevor Rebecca mit David zusammengezogen war, hatte sie als Sekretärin in einer großen Anwaltskanzlei
gearbeitet. Manche der Anwälte riefen zu ihr durch, wenn sie einen Kaffee wollten. Sogar die Anwältinnen machten das. Sie überlegte manchmal, ob sie wohl das Recht hätte, nein zu sagen. Das hätte sie sich schenken können - nach ein paar Wochen schickten sie eine Frau zu ihr, um ihr zu sagen, dass sie zu langsam war.
»Denk dran, mein Häschen«, sagte David jetzt und schaltete um. »Selbstvertrauen, das ist das A und O.«
»Okay«, sagte Rebecca. Sie malte einen Kringel nach dem anderen um die Anzeige für die Zahnarzthelferin, bis die Kringel fast die halbe Seite ausfüllten.
»Du musst ihnen das Gefühl vermitteln, dass sie von Glück sagen können, dich zu bekommen.«
»Okay.«
»Auf eine unbedrohliche Art natürlich.«
»Okay.«
»Und sei freundlich, aber red nicht zu viel.« David zielte mit der Fernbedienung, und der Fernseher ging aus. Der hintere Teil des Wohnzimmers lag im Dunkeln. »Arme alte Bicka-Beck«, sagte David, stand auf und kam zu ihr herüber. Er legte den Arm um ihren Hals und drückte spielerisch zu. »Wir sollten dich raus auf die Weide bringen und dir den Gnadenschuss geben, du armes altes Ding.«
David schlief hinterher immer sofort ein, aber Rebecca lag nachts oft noch wach. Heute Nacht stand sie auf und ging in die Küche. Gegenüber war eine Bar, die man vom Fenster aus sehen konnte, eine ziemlich laute - man hörte alles, was auf dem Parkplatz los war, aber Rebecca gefiel es. In den Nächten, in denen sie nicht schlafen konnte, beruhigte es sie zu wissen, dass noch andere wach waren. Sie stand da und dachte an den Mann aus der Geschichte, den ganz gewöhnlichen Mann mit der beginnenden Glatze, der mittags einsam in seinem Büro saß. Sie dachte auch an die Stimme
ihres Vaters, die sie so deutlich in ihrem Kopf gehört hatte. Sie erinnerte sich, wie er einmal vor langer Zeit zu ihr gesagt hatte: Es gibt Männer auf dieser Welt, die nicht besser als Köter sind, sobald sie bei einer Frau liegen. Und sie erinnerte sich, wie sie selbst ein paar Jahre nach dem Auszug ihrer Mutter erklärt hatte, sie wolle bei ihr wohnen. Geht nicht, hatte ihr Vater gesagt, ohne von seinem Buch aufzublicken. Sie hat auf dich verzichtet. Ich war vor Gericht. Du bist mir zugesprochen worden.
Lange hatte Rebecca nicht verstanden, was für ein Zuspruch das sein sollte.
Ein Streifenwagen bog in den Parkplatz ein. Zwei Polizisten stiegen aus, aber das Blaulicht blinkte weiter, seine Ausläufer zuckten bläulich zum Fenster herein, über die Spüle, den Maalox-Löffel. Wahrscheinlich hatte es eine Schlägerei gegeben - in der Bar kam es an vielen Abenden zu Schlägereien. Rebecca an ihrem Fenster spürte ein winziges Lächeln in sich, das langsam breiter wurde: Was für ein köstliches Gefühl das sein musste, dieser eine kurze Moment reinen Glücks, wenn man, groß und unschlagbar in seinem Suff, den ersten Hieb landete.
»Fühl mal«, sagte David und spannte den Bizeps an. »Nicht schlecht, was?«
Rebecca langte über ihre Müslischale und berührte seinen Arm. Es war, als würde man frostharte Erde berühren. »Wahnsinn«, sagte sie. »Echt.«
David stand auf und besah sich im Toaster. Er spannte beide Arme gleichzeitig an, wie ein Preisboxer, der sich den Zuschauern präsentiert. Dann stellte er sich seitlich hin und musterte sich im Profil. Er nickte. »Mhm«, sagte er. »Könnte schlechter sein.«
Der einzige Spiegel im Haus ihres Vaters war der über dem
Badezimmerwaschbecken gewesen. Wenn sie nicht gerade Zähne putzte oder sich das Gesicht wusch, hatte Rebecca vor diesem Spiegel nichts verloren: Eitelkeit war eine Sünde. »Deine Mutter hat nur einen Kult gegen den nächsten getauscht«, hatte ihre Tante Katherine gesagt. »Gläubig hin oder her, kein normaler Mensch lebt so.« Keiner, nur Rebecca. Sie wünschte, ihre Tante würde aufhören damit, würde einfach weggehen und aufhören, solches Zeug zu reden. »Möchtest du vielleicht zu uns ziehen?«, fragte ihre Tante sie einmal, und Rebecca schüttelte den Kopf. Sie hatte keine Lust, den Zuspruch zu erwähnen. Außerdem machte ihre Tante Katherine sie nervös, auf ganz ähnliche Art, wie Mrs. Kitteridge, ihre Mathelehrerin, sie nervös machte. Mrs. Kitteridge sah sie manchmal so bohrend an, wenn die Klasse still arbeiten sollte. Einmal hatte sie auf dem Korridor zu Rebecca gesagt: »Solltest du mal
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