Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge
gerafft und so ein bisschen bauschig. Rebecca drehte das Heft um und besah sich die Werbung genauer. Als ihre Haltestelle kam, stand für sie fest, sie würde das Hemd für David bestellen.
»An dem Hemd werden Sie viel Freude haben«, sagte die Frau am Telefon. »Es ist handgenäht und alles. Ein traumhaftes Hemd.« Die Nummer war eine gebührenfreie Nummer, und die Frau, die die Bestellung entgegennahm, hatte einen Südstaatenakzent. Es war eine Stimme wie aus einer dieser Waschpulverreklamen im Fernsehen, fand Rebecca, wo sich durch die Fenster Sonnenlicht über einen blankpolierten Boden ergießt.
»Also, schauen wir mal«, sagte die Frau. »Wir haben sie in Small, Medium und Large. Ach je, Schätzchen, ich muss Sie kurz wegdrücken.«
»Kein Problem«, sagte Rebecca. Vorhin im Bus hatte sich ihr Magen angefühlt wie ein nasser Luftballon, dessen Innenseiten aneinanderpappten, also klemmte sie jetzt den Hörer zwischen Hals und Schulter ein und langte über die Anrichte
nach dem Maalox-Löffel. Maalox klebt schauderhaft. Man kann den Löffel nicht in die Geschirrspülmaschine stecken, weil alle Gläser hinterher voll weißlicher Schlieren sind. Sie hatten einen Vorlegelöffel, den David den Maalox-Löffel nannte und der seinen festen Platz in dem Eck über der Spüle hatte. Rebecca stand da und leckte den Maalox-Löffel ab, als sie plötzlich die Stimme ihres Vaters hörte. Sie war nur in ihrem Kopf, aber sie hörte sie klar und deutlich. Mit Dieben will ich nichts zu tun haben, sagte er.
An dem Tag, als ihr Vater starb, hatte Rebecca einen Zeitschriftenartikel über eine telepathisch begabte Frau gelesen, die der Polizei half, Morde aufzuklären. Die Frau sagte, dass sie die Gedanken der Toten lese, dass Tote auch nach ihrem Tod noch Gedanken hätten.
»Entschuldigen Sie«, sagte die Frau mit dem Südstaatenakzent.
»Macht nichts«, sagte Rebecca.
»Also«, sagte die Frau. »Ist Ihr Mann eher in den Schultern breit oder eher um den Bauch rum?«
»Er ist nicht mein Mann«, sagte Rebecca. »Nicht richtig. Ich meine, er ist mein Freund.«
»Auch schön«, sagte die Frau. »Und ist Ihr Freund eher in den Schultern breit oder eher um den Bauch rum?«
»Schultern«, sagte Rebecca. »Er leitet einen Fitness-Club, und er trainiert ständig.«
»Okay«, sagte die Frau langsam, als würde sie mitschreiben. »Hm, ich frage mich nur, ob L ihm nicht vielleicht um die Taille zu weit sein könnte.«
»Wir heiraten aber wahrscheinlich noch«, sagte Rebecca. »Eines Tages.«
»Natürlich«, sagte die Frau. »Was für eine Anzuggröße trägt er denn? Das könnte uns weiterhelfen.«
»Ich glaub, ich hab ihn noch gar nie im Anzug gesehen.«
»Warum nehmen wir dann nicht einfach L«, schlug die Frau vor.
»Ich bestelle normalerweise nie etwas«, erklärte Rebecca ihr. »Über einen Postversand, meine ich. Und ich würde nie irgendwelche Sachen übers Internet bestellen. Ich geb doch nicht meine Kreditkartennummer im Internet an.«
»Ja?«, sagte die Frau. »Ja, manche Leute mögen das nicht. Manche Leute bestellen überhaupt nicht gern. Ist ja auch schöner, direkt im Laden zu kaufen. Das würde mir genauso gehen.«
»Es geht so leicht etwas verloren«, sagte Rebecca. »Da sind so viele Rechnungsbuchhalter und Lkw-Fahrer dazwischengeschaltet, Sie wissen schon, lauter Leute, die vielleicht gerade eine schlechte Nacht hinter sich haben oder sauer auf ihren Chef sind.« Unterm Reden blätterte sie die Zeitschrift durch, bis sie zu der ersten Seite der Geschichte kam - als der Mann noch glücklich gewesen war -, und riss sie vorsichtig heraus. Dann nahm sie das Feuerzeug, das sie in ihrer Gesäßtasche trug, und verbrannte die Seite im Spülbecken.
»Ja, so gesehen …«, sagte die Frau friedfertig. »Aber wir garantieren die Lieferung.«
»Oh, bei Ihnen hab ich da gar keine Bedenken«, sagte Rebecca, und es war die Wahrheit. Was für eine Stimme diese Frau hatte - Rebecca hätte ihr alles anvertrauen können. »Bloß bin ich eben die Sorte Mensch«, fuhr Rebecca fort, »der denkt, wenn man eine Weltkarte nehmen und für jeden Menschen auf der Welt eine Nadel hineinstecken würde, dann gäbe es keine Nadel für mich.«
Die Frau erwiderte nichts.
»Denken Sie manchmal auch so was?«, fragte Rebecca. Sie beobachtete das Flämmchen, das noch einmal einen Augenblick lang in der Spüle aufzüngelte wie ein kleines Geisterwesen.
»Nein«, sagte die Frau. »Nie.«
»Entschuldigung«, sagte Rebecca.
»Ach, warum
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