Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge
denn«, sagte die Frau. »Ist mir ein Vergnügen. Dann machen wir es so, nehmen wir L, und wenn es zu groß ist, schicken Sie’s einfach zurück.«
Rebecca ließ Wasser über die Ascheflocken laufen. »Darf ich Sie vielleicht was fragen?«, fragte sie die Frau.
»Wenn Sie möchten«, sagte die Frau.
»Sind Sie bei den Scientologen?«
»Ob ich …« Eine Pause entstand. »Nein, bin ich nicht«, sagte die Frau dann mit ihrem gemütlichen Südstaatenakzent.
»Ich auch nicht. Ich hab bloß zufällig einen Artikel über Scientology gelesen, und das klang so was von verquer …«
»Jedem das Seine, finde ich immer. Also …«
»Ich rede zu viel«, erklärte Rebecca der Frau. »Das sagt mein Freund mir auch immer. Und jetzt hab ich auch noch Kopfweh.«
»Mit jemand Nettem Geschäfte zu machen ist immer eine Freude«, sagte die Frau. »Drücken Sie sich einen kalten Waschlappen auf die Augen, das hilft meistens. Und ruhig fest drücken.«
»Danke«, sagte Rebecca. »Ja, nehmen wir L.«
»Legen Sie sich am besten gleich hin«, riet die Frau. »Und tun Sie den Waschlappen erst ins Eisfach.«
Rebecca Brown stammte aus einer alten Pfarrersfamilie. Ihr Großvater war der beliebte Reverend Tyler Caskey gewesen, Gemeindepfarrer an einer großen kongregationalistischen Kirche in Shirley Falls, und ihre Mutter seine Tochter aus zweiter Ehe; seine erste Frau war gestorben und hatte ihn mit zwei kleinen Mädchen zurückgelassen. Bis er sich schließlich wieder verheiratete und Rebeccas Mutter zur Welt kam, waren die anderen Töchter schon zu alt, um sich groß für
sie zu interessieren, und erst als Rebeccas Mutter ihrerseits einen Pfarrer heiratete und sich dann Knall auf Fall nach Kalifornien absetzte, um Schauspielerin zu werden, trat Rebeccas Tante Katherine auf den Plan. »Das gibt es doch nicht, dass eine Mutter sich einfach so davonmacht«, sagte sie mit Tränen in den Augen. Nun, das gab es sehr wohl - Rebeccas Mutter hatte es getan und nicht einmal protestiert, als Rebeccas Vater, Reverend Brown, der Pfarrer einer winzigen Kirche in Crosby, Maine, vor Gericht gezogen war, um das Sorgerecht zu erlangen. »Das ist doch krank«, sagte Tante Katherine. »Er wird dich in die Rolle der Ehefrau drängen. Wir können nur hoffen, dass er recht bald wieder heiratet.«
Tante Katherine hatte mehrere Therapien hinter sich, und Rebecca fühlte sich unwohl in ihrer Nähe. Ihr Vater jedenfalls verheiratete sich kein zweites Mal, Rebecca wuchs in einem einsamen Pfarrhaus auf, und auf die heimliche, stille Art, auf die Kinder solche Dinge wissen, wusste sie, dass ihr Vater kein so guter Pfarrer wie ihr Großvater war. »Es bricht mir das Herz«, sagte Tante Katherine, als sie sie einmal besuchte, und Rebecca hoffte, sie würde nie wiederkommen. Ihre Mutter schickte ab und zu eine Postkarte aus Kalifornien, aber als herauskam, dass sie der Scientology-Kirche beigetreten war, fand selbst Tante Katherine, dass es klüger sei, den Kontakt abzubrechen. Das war nicht weiter schwer - die Postkarten blieben aus.
Rebecca schrieb einen Brief nach dem anderen an die letzte Adresse, die sie von ihrer Mutter hatte, in einer Stadt namens Tarzana. Den Absender ließ sie weg, weil sie nicht wollte, dass ihr Vater die Briefe sah, wenn sie zurückkamen. Und aller Wahrscheinlichkeit nach wären sie zurückgekommen. Die Adresse war vier Jahre alt, und als Rebecca die Telefonauskunft anrief, gab es nirgends in Tarzana oder irgendeiner anderen Stadt im Umkreis einen Eintrag für Charlotte
Brown, und für Charlotte Caskey auch nicht. Wo gingen die Briefe hin?
Rebecca recherchierte in der Bibliothek über die Scientologen. Sie erfuhr, dass sie die Welt von »Körper-Thetanen« befreien wollten, Außerirdischen, die laut Scientology seit einer Nuklearexplosion vor fünfundsiebzig Millionen Jahren die Erde bevölkerten. Sie erfuhr, dass die Mitglieder sich von Familienangehörigen »loszusagen« hatten, die kritisch gegen Scientology eingestellt waren. War das der Grund, warum ihre Mutter ihr nicht mehr schrieb? Vielleicht waren die Postkarten an Rebecca ja als »unterdrückerischer Akt« gewertet worden, und ihre Mutter hatte sich vor der »Rehabilitation Project Force« verantworten müssen. Rebecca las, dass einem Mitglied in Aussicht gestellt worden war, mit Disziplin und der richtigen Schulung lernen zu können, wie man Gedanken las. Komm und hol mich, dachte Rebecca, so fest sie konnte. Bitte komm und hol mich. Später dachte sie: Leck mich am
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