Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge
Arsch.
Sie hörte auf, über Scientology nachzulesen, und las stattdessen Bücher über die Aufgaben einer Pfarrersfrau. Ein Tipp war, immer eine Dose Fruchtcocktail in der Speisekammer bereitzuhalten, für den Fall, dass ein Gemeindemitglied zu Besuch kam. Einige Jahre lang sorgte Rebecca deshalb dafür, dass im Schrank Fruchtcocktail bereitstand, obwohl fast nie jemand zu Besuch kam.
Als sie ihren High-School-Abschluss machte und es feststand, dass sie ausziehen würde, weil die Universität zwei Autostunden entfernt lag, erschien dies Rebecca als ein so unglaubliches, benebelndes Glück, dass sie fast sicher war, von einem Auto überfahren zu werden und den Rest ihrer Tage an einen Rollstuhl gefesselt im Pfarrhaus verbringen zu müssen. Aber als das Studium einmal begonnen hatte, vermisste sie ihren Vater manchmal, und es tat ihr weh, an ihn
zu denken, so ganz allein in diesem Haus. Wenn andere von ihren Müttern erzählten, sagte sie leise, ihre Mutter sei »dahingegangen«, was die Leute verlegen machte, weil Rebecca nach diesem Satz immer den Blick senkte, als quälte das Thema sie ungemein. Rein technisch gesehen, überlegte sie, stimmte es ja auch. Sie behauptete nicht, ihre Mutter sei tot, was ihres Wissens nicht zutraf. Ihre Mutter war gegangen, dahin, nämlich weit weg, und die Phasen, in denen sie ununterbrochen an sie denken musste, waren ihr mittlerweile so vertraut wie die Phasen, in denen sie fast gar nicht an sie dachte. Rebecca wusste von niemandem sonst, dessen Mutter sich davongemacht hatte, ohne je zurückzuschauen, und ihre eigenen Gedanken kamen ihr insofern nur natürlich vor.
Erst die Gedanken, die sich bei der Beerdigung ihres Vaters in ihr regten, kamen Rebecca nicht mehr natürlich vor. Schon gar nicht bei einer Beerdigung. Sonnenlicht fiel durch eines der Kirchenfenster, brach sich an der hölzernen Banklehne, strich schräg über den Teppich, und dieser Sonnenfinger kitzelte in Rebecca ein Verlangen wach. Sie war neunzehn, und sie hatte im College schon einiges über die Männer gelernt. Der Pfarrer, der den Gottesdienst hielt, war ein Freund ihres Vaters; sie hatten vor Jahren zusammen das Predigerseminar besucht, und als sie ihn dort vorne stehen sah, die Hand zum Segen erhoben, begann Rebecca an all die Dinge zu denken, die sie unter seinem Talar mit ihm anstellen konnte, Dinge, wegen denen er später um Vergebung würde beten müssen. »Carletons Geist bleibt hier unter uns«, sagte der Pfarrer, und Rebeccas Kopf überzog sich mit einer Gänsehaut. Die Telepathin fiel ihr ein, die die Gedanken der Toten las, und ihr war, als säße ihr Vater direkt hinter ihren Augäpfeln und sähe, was sie in ihrer Phantasie mit seinem Freund trieb.
Dann musste sie an ihre Mutter denken - vielleicht hatte
sie ja beigebracht bekommen, fremde Gedanken zu lesen, und las Rebeccas sämtliche Gedanken in diesem Moment. Rebecca schloss die Augen, als würde sie beten. Leck mich, sagte sie zu ihrer Mutter. Entschuldigung, sagte sie zu ihrem Vater. Dann öffnete sie die Augen wieder und betrachtete die Menschen in der Kirche, alle miteinander so vertrocknet wie dürres Holz. Sie stellte sich Häuflein von Zeitungspapier vor, die sie draußen im Wald anzündete; dieses jähe kleine Aufzüngeln der Flamme hatte ihr immer schon gefallen.
»Was hast du da, Bicka-Beck?«, fragte David. Er hockte auf dem Boden, die Fernbedienung auf den Fernseher gerichtet; sooft Werbung kam, schaltete er weg. Durch die Fensterscheibe über ihm geisterte die Spiegelung des Bildschirms, kleine Lichtreflexe, die in dem Glas zuckten und tanzten.
»Zahnarzthelferin«, sagte Rebecca, die am Tisch saß. Sie kringelte die Anzeige ein. »Lieber wollen sie wen mit Erfahrung, aber wenn’s sein muss, bilden sie auch aus.«
»Ach, Häschen«, sagte David, ohne den Blick vom Bildschirm zu wenden. »Den ganzen Tag in irgendwelchen Mündern rumstochern?«
Man konnte nicht darum herumreden, mit den Jobs war das so eine Sache bei ihr. Der einzige Job, der ihr je Spaß gemacht hatte, war der Sommerjob damals bei Dreambeam Ice Cream. Der Geschäftsführer war jeden Tag ab zwei Uhr betrunken gewesen und hatte sie alle so viel Eis essen lassen, wie sie wollten. Die Kinder bekamen so gewaltige Eiskugeln von ihnen, dass ihnen fast die Augen aus dem Kopf fielen. »Passt schon«, hatte der Geschäftsführer gesagt, während er zwischen den Gefrierschränken hin und her torkelte. »Geht der Laden halt pleite, mir doch
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