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Mit Blut signiert - Ein Caravaggio-Roman

Mit Blut signiert - Ein Caravaggio-Roman

Titel: Mit Blut signiert - Ein Caravaggio-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matt Beynon Rees
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nicht so sehr an die tiefe Entschlossenheit und den Hass. Es sind vielmehr das Schuldgefühl und die Reue, die ich empfand, als der Sterbende mich ansah. Noch im Moment, da er seinen Frieden fand, gab er die ganze Monstrosität der Welt an mich weiter.
    Caravaggio gruppierte sie zu diesem Moment. Drei weitere Proben, jede dichter an dem von ihm gewählten Augenblick. «Du wirst zu Boden gestoßen», sagte er zu dem Küchenjungen. «Was wäre dein letzter Gedanke?»
    «Dass der Messias kommt.»
    «Nein, nein, nicht als heiliger Johannes – als du selbst. Du wirst in einem Kerker abgeschlachtet. Das Letzte, was du siehst, ist der Lehmboden.»
    Ein eingeschüchtertes Verständnis zog über das Gesicht des Jungen. Das war die Vorlage, die Caravaggio für seine Kunst brauchte, aber es war auch das verwüstete Antlitz seiner eigenen Schande. Erregung durchzitterte all seine Glieder. Er rief: «Das ist es.»
    ∗
    Fabrizio kam in die italienische Taverne, um sich von Caravaggios Fortschritten bei der
Enthauptung
zu überzeugen. «Du hast deinen Stil verändert, Michele. Er ist anders als in den Arbeiten, die ich in Rom gesehen habe.»
    «Es liegt nicht an der Pinselführung», sagte Caravaggio. «Ich selbst habe mich verändert.»
    Fabrizio verharrte lange, strich sich übers Kinn; auf seinemGesicht spiegelte sich erst Überraschung, dann Erleuchtung – erst Betroffenheit, dann Freude.
    Auch Caravaggio dachte über die Szene nach. Die Brust des Täufers war zu Boden gedrückt. Der Henker packte sein Opfer an den Haaren und beugte sich über ihn. Aus Fabrizios wechselndem Mienenspiel konnte Caravaggio ablesen, dass es ihm gelungen war. Er hatte dargestellt, was vor und nach diesem eingefangenen Moment geschah. Das Gemälde zeigte eine ganze Episode, die in der Zügigkeit der Pinselstriche und in der Dramatik der Komposition zum Ausdruck kam.
    Von der Laterne vor der Leinwand halb beleuchtet, verzog Fabrizio angesichts des sterbenden Heiligen das Gesicht. «Ich denke immer an diesen Moment, Michele.»
    Caravaggio wusste, was er meinte.
    «Als ich den Farneser tötete, fühlte ich mich völlig im Recht.»
    «Ich weiß.»
    «Als du Ranuccio getötet hast …»
    Betrat ich eine andere Welt
, dachte Caravaggio.
    Fabrizio verdrehte die Hände, als wollte er das Vergehen der Zeit andeuten, das auf der Leinwand Ereignis zu werden schien. «Ich denke oft mit Bedauern an die Augenblicke davor und danach. Aber der Moment, in dem ich ihn tötete – den konnte ich nie erkennen. Bis jetzt.» Er stützte sich mit der Hand schwer auf eine Stuhllehne und beugte sich vor, als sei er erschöpft. «Dir ist es großartig gelungen, uns den Augenblick des Todes zu zeigen. Du scheinst ihn ganz genau zu kennen. Aber verstehst du auch, was es bedeutet, am Leben zu sein? Ich bin für die Tötung des Farnesers begnadigt worden. Niemand trachtet mir nach dem Leben. Aber wenn ich dein Gemälde ansehe, ersticke ich an Schuldgefühlen und Angst und Vorahnungen. Es muss schrecklich sein, in deiner Haut zu stecken, Michele.»
    «Ist das meine Schuld?»
    «Nimm es nicht übel, Michele. In meinem Leben gibt es nurnoch einen anderen Moment, der mir so viel bedeutet hat wie der Augenblick, in dem ich zum Mörder wurde.» Fabrizios blasse Augen traten hervor und schimmerten im Laternenlicht im Glanz einer alten Sehnsucht. Er umarmte Caravaggio, legte ihm die Hand in den Nacken und zog ihn dicht an sich heran. Ihre Lippen und Körper berührten sich. Fabrizio stöhnte im unschuldigen Ton eines Jungen, der die Rohheit der männlichen Stimme sanft werden ließ.
    Caravaggio kannte diesen Ton aus seiner Jugend. Er erinnerte sich daran, wie es sich angefühlt hatte, seinen Freund in den Armen zu halten. Aber er schmeckte auch die Angst, die danach gekommen war, die Einsamkeit nach seinem Abschied aus Costanzas Haus, die Armut seiner ersten Jahre in Rom. Für die Lust, die er in Fabrizios Stimme vernahm, hatte er teuer bezahlt.
    Er entzog sich ihm. Fabrizio klammerte sich an ihn, aber Caravaggio stieß ihn gegen die Brust. «Lass mich.»
    «Michele, nicht.»
    Wer wird mich diesmal schlagen?
, dachte Caravaggio.
Wer wird mich hinauswerfen und sagen, es sei nur zu meinem eigenen Wohl? Während dieser Mann immer ein Prinz bleibt
. «Ich habe gesagt, lass mich.»
    Als er allein war, löschte Caravaggio die Lampe. Er dachte an Fabrizios Frage. Ja, er wusste, was es hieß, am Leben zu sein. Wissen konnten das nur ein Künstler oder ein Mörder oder Gott, diejenigen, die

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