Mit dem Wolf in uns leben. Das Beste aus zehn Jahren Wolf Magazin (German Edition)
auslöste.
Denn auf den Hund, der nach vielen weiteren Generationen aus den zahmen Wölfen hervorging, folgten bald weitere Haustiere: Schaf, Ziege, Rind, Schwein. Zugleich kultivierte man erste Nutzpflanzen, baute feste Siedlungen mit Vorratslagern und Ställen. Aus dem Jäger wurde der Hirte, aus dem Sammler der Bauer.
Damit nahm unsere Geschichte einen völlig neuen Verlauf. Die neue Technik der Naturnutzung führte zur Arbeitsteilung und ließ bald erste Hochkulturen entstehen; aber auch Klassengesellschaften, Naturzerstörung und Kriege. Die moderne Geschichte des Menschen begann. Angefangen aber hat sie ganz unspektakulär und wohl eher zufällig als zukunftsorientiert damit, dass eine Frau (aus welchen Gründen auch immer) einige kleine, hilflose Jungen einer fremden Art an ihre Brust legte und sie von ihrer Milch trinken ließ.
Dass diese fremde Art ein Wolf war, ist kein Zufall. Denn keine Tierart ist dem Menschen sozial so verwandt wie der Wolf. Beide, Mensch wie Wolf, leben ursprünglich von der Jagd auf große Beutetiere. In Anpassung an diese Ernährungsweise bilden sie Großfamilien. An der Spitze der Familie steht ein starkes Männchen, das Familienoberhaupt beim Menschen, der Alpharüde bei den Wölfen. Er führt die anderen auf die Jagd, und er ist es auch, der den meisten Nachwuchs zeugt.
Doch er ist nur vordergründig der Chef. Die wirklich wichtigen Entscheidungen trifft beim Menschen wie beim Wolf die Frau, das ranghöchste Weibchen. Nach ihren Bedürfnissen richtet sich letztendlich alles, was von Belang für die Gruppe ist. Sie ist es, die ein oder mehrere Männchen – gleichzeitig oder hintereinander – mithilfe ihrer Sexualität an sich bindet, damit diese für sie und ihre Kinder jagen und sie gegen alle Feinde schützen. Sie ist das wahre Zentrum der Gruppe.
In dieser Wesensverwandtschaft zwischen Mensch und Wolf, Frau und Wölfin liegt die Annäherung beider Arten, die erste Domestikation und der dadurch verursachte große Bruch in unserer Geschichte.
Wohl in Kenntnis dieser Verwandtschaft betrachten viele Naturvölker den Wolf als Ahnherrn oder Totem ihrer eigenen Herkunft. Am Anfang der Welt steht für mehrere Indianerstämme Nordamerikas der Wolf als Urvater/Mutter ihres Stammes. Auch das Geschlecht des Dschingis Kahn, des großen Mongolenherrschers, geht nach der Überlieferung auf eine Wölfin zurück. Ja sogar die hochkultivierten Römer verdanken der Legende nach die Gründung ihrer Stadt der selbstlosen Aufopferung einer Wölfin.
Offensichtlich stehen sich Weiblichkeit als Urahn des Lebens und Wolf als Symbol der nicht immer zähmbaren Wildheit mythologisch sehr nahe. So auch im Mittelalter und Jahrhunderte danach in Europa. Es war die Zeit, als der Wolf zur Plage wurde. Adelige Jäger hatten nahezu alles Wild erlegt. So blieben den Wölfen nur noch Haustiere als Beute übrig. Der Kampf der Bauern gegen diese wahrhaft existenzielle Bedrohung seitens einer unkontrollierbaren Natur ist lang und intensiv. Die Vorstellung vom Wolf als dem Bösen schlechthin stammt aus dieser Zeit.
Und ebenso die Vorstellung von der Frau als Hexe, als das von Natur aus vom Mann nur schwer zu kontrollierende Weib. Unzählig und grausam sind die Opfer dieser männlichen Angst vor dem Unberechenbaren. Damals starben die Frauen, die sich nicht mehr fügen wollten, in den Flammen der Scheiterhaufen. Neben ihnen loderten allerdings auch unzählige Männer als vermeintliche Werwölfe; Männer, die sich ebenfalls der alten Ordnung nicht unterordnen konnten.
Groteske Zeiten, die sich aber immer wieder in neuer Form wiederholen. Letztendlich geht es wohl immer um zwei nahe verwandte Phänomene der menschlichen Existenz: um Angst und um Herrschaft. Angst beim Mann vor all dem, was sich nicht vollständig von ihm kontrollieren und bestimmen lässt. Angst vor der noch nicht gezähmten Natur, vor der eigenständigen Frau zu Hause und dem wilden Wolf im Wald.
Angst der Frau vor dem dunklen Wald, vor dem schwarzen Mann, vor dem bösen Wolf. Angst, die in früheren Zeiten nicht ganz unbegründet war. Angst, die sich aber auch schüren lässt. Denn Angst ist nützlich. Sie dient der Herrschaft. Die Herrschaft der Eltern über Kinder, die nicht gehorchen, die Herrschaft des Mannes über Frauen, die sich nicht fügen, die Herrschaft der Mächtigen über all die, die sich nicht unterordnen.
Im Märchen etwa wurde Rotkäppchen vom lüsternen Wolf verführt, aber vom Jäger gerettet. Sein sexueller Neid und seine
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