Mit dem Wolf in uns leben. Das Beste aus zehn Jahren Wolf Magazin (German Edition)
Pfoten waren geschmeidig, die Sohlen weich und schwammig unter ihrer schwieligen Oberfläche, und die Fellpolster zwischen seinen Zehen waren seidig. Die rechte Pfote des Wolfes hatte drei Zehen verloren. An der linken Pfote war eine Zehe verkrüppelt. Auch das waren alte Wunden, die schon in Mechs Unterlagen seit 1983 registriert waren. Mech glaubt, dass sie vermutlich entstanden waren, als der Wolf in einer Fuchsfalle geraten war, die Falle freigezogen und sie mit sich herumgeschleppt hatte, bis die Zehen abfaulten, ein Risiko für viele Wölfe Minnesotas während der Fallen-Saison.
Wir gingen hinaus, um zu sehen, was uns die Wolfsspuren über letzte Nacht sagen konnten. Wir fanden heraus, dass, obwohl er in den vorherigen Wochen überall durch die Wälder hinter der Lichtung gelaufen war und sieben Ruheplätze gefunden hatte, letzte Nacht das einzige Mal gewesen war, wo er zu unserem Haus kam. Er war bis an den Anfang unseres Schlittenweges gelaufen, den steilen, langen Hang hinaufgeklettert und dann dem Schneeschuhpfad um das Gebäude herum gefolgt.
Dort hatte er gestanden, sich dann umgedreht und war die Lichtung hinunter gelaufen. Später hatte er sich unter einem großen Fichtenbaum zusammengerollt, lange genug, um einen leichten Abdruck im Schnee zu hinterlassen. Dann war er erneut auf den Hügel geklettert, den ganzen Weg diesen steilen Hügel hinauf, mit kleinen Schritten, aber ohne sich hinzusetzen, bis er wieder hinter dem Haus war. Dort hatte er Zweige und Nadeln aus dem Fell geschüttelt, war auf die Terrasse getreten und hatte sich zwischen einer Bank und dem Haus hindurchgequetscht, wo heute noch ein Büschel wolliger Wolfshaare an einem verborgenen Nagel hing. Und dann war er am Fenster aufgetaucht, mit diesem uns verfolgenden Wolfsgesicht und diesem eindringlichen Klopfen.
Wir rätselten mehr denn je, was den Wolf zum Besuch bewogen hatte. Er hatte dabei so viel Energie verbraucht, dass nur noch wenig übrig geblieben sein musste. Wenn es eine zufällige, irrationale Tat gewesen sein sollte, dann wäre es logischer für ihn gewesen, in jede andere Richtung zu gehen, statt steil bergauf. Wir liefen in unseren Schneeschuhen zur Straße und fuhren in die Stadt, um Dave Mech anzurufen und einige Fragen zu stellen.
Mech wusste genau, worüber wir sprachen. Die Wanderungen von Wolf 6530 hatten ihn sehr interessiert, und diese Informationen über die letzte Reise des Wolfes und seinen Tod würden eine wertvolle Ergänzung seiner Unterlagen sein. Eine Autopsie ergab später, dass der Wolf an einer Lungenentzündung gestorben war, und Mech konnte so eine natürliche Todesursache feststellen, die bisher bei wilden Wölfen unbekannt war. Wolf 6530 musste auf irgendeine Art und Weise unter Stress gestanden haben. Mit großer Wahrscheinlichkeit war er unterernährt. Beutetiere sind im Winter schwer zu reißen, besonders für einen einsamen Wolf, der zudem noch unter dem Schmerz einer alten Verletzung leidet.
Die Geschichte des Perch-Lake-Rudels faszinierte uns. Und sie half uns, mehr über Wolf 6530 zu erfahren. Wir hatten während dieser kurzen, intensiven Zeit ein tiefes Gefühl für ihn entwickelt. Durch seine Geschichte erfuhren wir mehr über ihn.
Mech konnte etwas über das große Geheimnis sagen, warum der Wolf zu unserem Haus gekommen war. So unglaublich es auch aussehe, sagte er, sei es nicht ungewöhnlich für hungernde, wilde Tiere, in die Nähe menschlicher Behausungen zu kommen. Wölfe, Waschbären, Luchse und Bären hätten sich alle schon vor ihrem Tod Menschen genähert. Dennoch passen diese Erklärungen nicht ganz auf unseren Fall. Das Haus ist zu weit von der Lichtung entfernt, als dass er hätte Wärme fühlten können. Und was das Essen anging, so war noch genug Fleisch am Rehkadaver übrig – sowie Aussicht auf mehr.
Wir werden niemals wissen, was ihn dazu motiviert hat, zu uns zu kommen. Ich kann nur sagen, dass ich Wolf 6530 dankbar bin, dass er die letzten, verzweifelten Momente seines Lebens mit uns geteilt hat. Das gab uns ein Gefühl der Verbundenheit mit seiner Welt, das wir sonst niemals gehabt hätten. Unsere Verpflichtung und Verantwortung, in Harmonie mit dieser Welt zu leben, war gestärkt worden. Wir werden das lebendige Bild des Wolfes am Fenster immer in uns tragen.
(Ellen Hawkins; International Wolf, Spring 93, Wolf Magazin Sommer 93)
Buchtipp:
Über die Arbeit der Forscher in Minnesota berichtet mein Buch:
„Wolfsküsse. Mein Leben unter Wölfen“
Elli H.
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