Mit dem Wolf in uns leben. Das Beste aus zehn Jahren Wolf Magazin (German Edition)
Autodecke zu einer Bandage für ihren Knöchel, wärmenden Fußwickeln, einem Schal und einer Art Kapuze verarbeitet hatte. Sie betrachtete ihre vermummte Gestalt im Rückspiegel und rechnete sich gute Chancen aus, dass die Wölfe entweder vor Schreck die Flucht ergreifen oder sich totlachen würden.
Sie aß und trank das wenige, was noch von der letzten Rast übrig geblieben war, und durchstöberte den Werkzeugkasten nach etwas, das man als Waffe benutzen konnte. Der Feuerlöscher war zu schwer, um ihn den ganzen Weg mitzuschleppen. Sie fand einen langen Radschlüssel, den man durch einen Aufsatz noch verlängern konnte, sodass sich eine schwere Metallstange von etwa einem halben Meter ergab. Sie machte sich aber keine Illusionen darüber, dass man Reifen damit wesentlich besser zu Leibe rücken konnte als Wölfen.
Dann brach sie auf. Auf allen Vieren kriechend folgte sie der Schneise, die der Wagen gerissen hatte. Als sie die Straße erreichte, betrachtete sie nachdenklich ihre Reifenspuren, die plötzlich in kleine Furchen übergingen und schnurgerade die Kurve verließen. Dazwischen hatte Öl Teile des Schnees schwarz gefärbt.
Sie kroch den gegenüberliegenden Hang hoch, sorgsam darauf bedacht, nicht an Ästen hängen zu bleiben und nicht die Richtung zu verlieren. Zum Glück flachte sich der Hang mehr und mehr ab. Es war eine mühsame, schmerzvolle Plackerei, aber sie vergaß dabei vor lauter Anstrengung immer öfter, sich prüfend umzuschauen und in die Stille hineinzuhören.
Es mochte vielleicht eine Meile gewesen sein, die sie auf diese Weise hinter sich gebracht hatte, als sie seltsame Laute hörte. Panik überfiel sie, und sie griff hastig nach der Metallstange, während sie sich nach einem irgendwie gearteten Schutz umsah. Noch ehe sie Gelegenheit hatte, einen Baum zu erreichen oder gar zu erklettern, sah sie sie.
WÖLFE!
Sie bewegten sich den Hang hinab, langsam, fast schlendernd. Zuerst sah sie nur einen, groß und dunkel gefärbt, mit hellgelben Augen, die sie ansahen. Dann tauchte ein zweiter hinter einem Stamm auf, ein dritter, ein vierter … Sie wartete nicht auf das Erscheinen eines fünften, sondern lief los. Ja, sie lief. Der Schmerz war vergessen und die Richtung egal, irgendwie den Hang hinunter, nur Weg von den Wölfen. Sie stolperte und stürzte, glaubte die Wölfe schon über sich und schlug mit dem Radschlüssel wild um sich. Doch nichts passierte. Kein Knurren, kein Hecheln, kleine blutgierigen Augen, keine blitzenden Zähne.
Atemlos setzte sie sich auf. Sie war allein, von den Wölfen keine Spur. Sollte sie etwa schneller gerannt sein als die Wölfe? Die Metallstange fest umklammert, stieg sie auf einen nahen Baum und wartete auf ihren Angriff. Doch kein Wolf ließ sich blicken. Nur der Schmerz im Knöchel kehrte zurück.
Sie hatte beschlossen, die Nacht in dem Baum zu verbringen. Dazu trug nicht zuletzt der Umstand bei, dass der Wind ihr aus verschiedenen Richtungen wieder dieses unheimliche Heulen zutrug. Es glich einem melancholischen Gesang, einem Chor sich gegenseitig antwortender oder unterstützender Stimmen, die klar und hell durch die Nacht riefen, in fallender Tonlage und sanft ausklingend. Es waren endlose, schlaflose Stunden, doch auch diesmal entkam sie einem Albtraum nicht. Als sie aus ihrem unruhigen Schlaf mit weit aufgerissenen Augen aufwachte, wäre sie fast vom Baum gefallen.
Oh, was war sie wütend auf diese Bestien! Irgendwo hatte sie gelesen, dass einige Wölfe wieder in den Nationalparks aufgetaucht seien. Und dass es sogar Menschen gab, die dies befürworteten und unterstützten. Die sollten jetzt eigentlich an ihrer Stelle hier sitzen! Es hatte schon seine guten Gründe, dass der Wolf fast überall vom Menschen vertrieben oder ausgerottet worden war. Sie hatte schon zwei bewaffnete Banküberfälle überlebt und war einer dieser fast alltäglichen Straßenschießereien nur mit knapper Not entkommen. Aber was war das alles schon gegen dies hier!
Die Wölfe tauchten nicht wieder auf. Dafür wurde es noch kälter, und dunkle Wolken zogen auf. Als ein leichter Schneefall einsetzte, entschloss sie sich, weiterzulaufen. Lieber nahm sie es mit den Wölfen auf, als dass sie hier erfror.
Sie wusste nicht mehr genau, wo sie war. Auch hatte sie wohl fast die Hälfte des bereits zurückgelegten Weges auf der Flucht vor den Wölfen wieder verloren. Doch trotz des dumpfen Schmerzes in ihrem Knöchel kam sie gut voran. Das Gelände wurde flacher und felsiger. Einzelne
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